Superfood von der Fensterbank |
Die klassische Gartenkresse ist ein typisches Beispiel für ein »Microgreen«. Sie ist einfach anzubauen und zu ernten und kann in der Küche vielseitig verwendet werden. / Foto: Getty Images/GMVozd
Die breite Vielfalt aus Keimsaaten wie etwa Alfalfa, Mungbohnen, Radieschen, Brokkoli und Rotklee bringt zudem geschmacklich und optisch Abwechslung auf den Teller. Die eigene Anzucht auf der Fensterbank gelingt kinderleicht, soweit man ein paar Aspekte beachtet.
Keimlinge, Sprossen, Grünkraut oder Microgreens: Was die meisten als Synonyme benutzen, bezeichnet vielmehr das Wachstumsstadium der jungen Pflanze. Die neue Pflanzengeneration ist im Samen vollständig angelegt – mit der Basis für die Wurzeln, Stängel und Keimblätter. Aus dem enthaltenen Mehlkörper schöpft die Pflanze in der ersten Lebensphase ihre Energie. Keimlinge sind die jungen Pflänzchen, die frisch aus dem Samen schlüpfen. Dieser trennt sich nun langsam vom Mehlkörper und gewinnt nun seine Energie und Nährstoffe über die Wurzeln und die Sonne mittels Fotosynthese. Daraus wird Chlorophyll erzeugt. Wenn sich die Keimblätter zusehends entfalten, werden aus Keimlingen Sprossen. Sie umfassen die oberirdisch wachsenden Pflanzenteile (Sprossachse beziehungsweise Stängel und Blattanlagen). Die Wurzeln gehören strenggenommen nicht dazu. Keimlinge und Sprossen können aber in der Regel vollständig verzehrt werden.
Wenn die Pflanze immer geordneter der Sonne entgegenwächst, die Blätter durch das Chlorophyll Farbe angenommen haben und die Wurzeln gut sichtbar Fuß gefasst haben, spricht man von Grünkraut. Dieses kann man noch viele Tage ernten. Es empfiehlt sich, nur den oberen Teil der Pflanze ohne Wurzeln zu genießen. Das wohl bekannteste Grünkraut-Beispiel ist die Gartenkresse, die es in jedem Supermarkt zu kaufen gibt.
Mittlerweile setzt sich auch ein neuer Trend durch: die Microgreens. Das deutsche Angebot der mittlerweile als Superfood gehypten Pflänzchen ist dabei mit dem schon länger bekannten Grünkraut vergleichbar. Einige Start-Ups wie Blattsache, Blattgrün oder Stadtfarm haben sich auf die Zucht von Microgreens spezialisiert. Sie bauen diese in vertikaler Landwirtschaft an – in Anzuchterde oder Substrat.
In keiner Entwicklungsphase ist die Pflanze so voll mit Nährstoffen sowie sekundären Pflanzenstoffen wie in ihrer Keimphase. Durch den Keimvorgang vermehren sich die Enzyme im Samen rasend schnell, und die Bioverfügbarkeit der Mikronährstoffe steigt. Proteine und Kohlenhydrate werden in ihre Bausteine umgewandelt, sodass sie leichter verdaut werden. Besonders hervorzuheben ist der sprunghafte Anstieg von Vitaminen. Lässt man beispielsweise Weizenkörner einige Stunden keimen, so kann sich der Gehalt von Betacarotin sogar verdreifachen, Der Gehalt der Vitamine B1, B2 und B6 steigt um etwa 50 Prozent, und der Vitamin-E-Gehalt verdoppelt sich.
Im weiteren Wachstum verändern sich die zarten Pflänzchen weiter: Durch den steigenden Wassergehalt sinkt der Kalorien- und Fettgehalt pro Gewichtseinheit im Vergleich zum Saatgut. Mikronährstoff- und Ballaststoffgehalt nehmen weiter zu. Vor allem aber steigt die Bioverfügbarkeit von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. Beispielsweise wird die in vielen Getreidesorten enthaltene Phytinsäure durch den weiteren Keimvorgang abgebaut. Dieser Pflanzenstoff bindet zahlreiche Mikronährstoffe an sich, sodass diese nicht in die Blutbahn aufgenommen werden können. Je weniger Phytinsäure vorhanden ist, desto mehr Mikronährstoffe kommen an ihren Zielorten an.
Sprossen, Keimlinge und Grünkraut sind zudem reich an sekundären Pflanzenstoffen. Diese Farb- und Aromastoffe schützen nicht nur auf natürliche Weise die Pflanze, sondern auch den Menschen. Sie senken unter anderem das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes und wirken antientzündlich, antibakteriell oder antiviral. Kreuzblütler wie Rucola, Radieschen und Brokkoli gelten aufgrund ihres hohen Senfölgehaltes als besonders gesund. Forschende der Universität Heidelberg zeigten in Laborversuchen, dass das in Brokkoli-Sprossen hochkonzentriert enthaltene Senföl Sulphorophan das Tumorwachstum schwächt und sogar die sehr aggressiven Tumorstammzellen angreift. Epidemiologische Studien legen nahe, dass eine wirksame Konzentration von Sulphorophan und verwandte Senföle über die tägliche Ernährung zugeführt werden kann. Dafür sollte sie regelmäßig Sprossen, aber auch das »ausgewachsene« Gemüse aus der Familie der Kreuzblütler enthalten.
Wer Keimlinge, Sprossen oder Grünkraut selbst ziehen möchte, muss sich nur ein paar Tage gedulden bis zur Ernte. Die Anzucht ist einfach, aber die kleinen Keime brauchen eine sorgfältige Pflege. Dabei sollten einige Grundregeln beachtet werden. Die Basis für gesunde Sprossen ist hochwertiges Saatgut, am besten in Bio-Qualität. Das Keimgefäß beziehungsweise Keimgerät sowie die verwendeten Gegenstände sollten vor und nach der Nutzung gereinigt werden (zum Beispiel mit Essigwasser oder unter Zugabe von ein wenig Zitronensäure zum Wasser). Das Saatgut sollte mit einem sauberen Löffel entnommen werden. Diese Grundhygiene ist essenziell, denn: Schon bei der Lagerung, aber vor allem während des Keimprozesses können sich Bakterien und Schimmelpilze am Keimgut ansiedeln und dieses verderben. Auch Fäulnis muss vermieden werden. Der weiße Flaum, der die hauchzarten Wurzeln mancher Sprossen umgibt, sollte jedoch nicht mit Schimmel verwechselt werden. Die Faserwurzeln können bedenkenlos verzehrt werden.
Beim Thema Sprossen denken noch immer viele Menschen an die EHEC-Epidemie 2011. Vor allem in Norddeutschland erkrankten Tausende teils schwer an blutigen Durchfallerkrankungen, 53 Menschen starben. Auslöser waren seinerzeit Bockshornkleesamen sowie die daraus gewachsenen Sprossen und Keimlinge, die aus Ägypten importiert wurden. Zwar hat sich bei der Hygiene einiges getan seitdem, aber anfällig für gesundheitsschädliche Keime bleiben Samen, Sprossen und Co. immer. Die eigene Anzucht auf der Fensterbank ist dem Kauf von küchenfertigen Mischungen aus Plastiktüten vorzuziehen. Letztere bergen durch den längeren Transport und die Lagerung immer ein gewisses Infektionsrisiko für den Menschen. Immungeschwächte und Schwangere sollten Sprossen und Keimlinge nicht roh verzehren.
Neben der Hygiene spielen noch weitere Keimbedingungen eine Rolle, damit aus den kleinen Samen schon bald knackige und wohlschmeckende Sprossen werden. Die Keimsamen werden zuerst gründlich gespült und anschließend – je nach Packungsanweisung – für eine gewisse Zeit eingeweicht. Zur Keimung ist ein heller Ort ohne direkte Lichteinstrahlung optimal. Die Samen sollten nicht zu dicht im Keimgerät liegen, damit sie von allen Seiten gut belüftet werden und sich optimal entfalten können. Jede Sorte hat andere Ansprüche bezüglich Einweichzeit, Pflege und Keimdauer. Diese finden Verbraucher auf der Verpackung der Saaten.
Wichtig ist immer, dass die Keimlinge und Sprossen feucht gehalten werden. Sie sollten weder austrocknen noch ertrinken. Ist die Keimumgebung zu feucht, begünstigt dies wieder die Bildung von Schimmel und Fäulnis. Nach dem Wässern sollte das Wasser also gut ablaufen können. Dies klappt beispielsweise wunderbar mit einem Keimglas inklusive Siebeinsatz, das sich besonders für Anfänger eignet. Mit einem Keimgerät, das mehrere Etagen besitzt, können Fortgeschrittene dann einen vertikalen Sprossengarten zaubern. Aber auch mit einem sauberen Marmeladenglas mit durchlöchertem Deckel kann das Keimen kostengünstig ausgetestet werden.
Die Temperatur zum Keimen sollte idealerweise zwischen 18 und 22 Grad liegen, eine Luftzirkulation muss gegeben sein. Zur Regulierung kann ein Deckel hilfreich sein. Durch Anheben kann dann überschüssige Feuchtigkeit und Wärme entweichen.
Grundsätzlich sind alle Samen zum Keimen geeignet, die schnell keimen, ungiftig sowie gut verträglich sind. Für Anfänger eignen sich folgende Samen besonders gut: Alfalfa (mild nussig), Brokkoli (mild würzig), Mungbohnen (süßlich nussig), Kresse, Rucola, Radieschen (alle drei würzig und leicht scharf) oder Rotklee (mild) und auch Weizengras (mild süßlich). Ebenso sind Sonnenblumen- (fein nussig) und Kürbissamen (nussig) oder auch Samenmischungen gut geeignet, um die geschmackliche Vielfalt auszuprobieren. Keimlinge, Sprossen und Grünkraut eignen sich nicht nur als gesundes und leckeres Topping auf dem Butterbrot oder zur Hauptspeise. Auch als Zutat in Quarkdips, Kräuterbutter oder Smoothies können sie punkten.
Sprossen und Co. sollten »normales« Gemüse wie Kohl, Kürbisse und Lauchgemüse jedoch nicht ersetzen, sondern sinnvoll ergänzen. Ausgewachsene Gemüsesorten liefern beispielsweise bei einer üblichen Verzehrsmenge deutlich mehr Ballaststoffe, die wichtig für die Sättigung und die Darmmikrobiota sind. Und laut einer Untersuchung der Universität Fulda enthält Brokkoli als ausgewachsenes Gemüse deutlich mehr Vitamin C im Vergleich zu dem untersuchten Brokkoli-Microgreen.
Für die Gesundheit zählt immer das Gesamtkonzept der Ernährung, nicht die Konzentration auf einzelne Superfoods. Wer sich dabei an der traditionellen Mittelmeerkost orientiert und diese regelmäßig mit Sprossen und Keimlingen aufpeppt, der wappnet sein Immunsystem für die anstehende Infektzeit.