Taktgeber für die innere Uhr |
Die natürlichen Lichtverhältnisse beeinflussen den Hormonhaushalt des Körpers: Mit dem Morgenlicht wird die Produktion von Melatonin heruntergefahren, gleichzeitig wird mehr Serotonin ausgeschüttet. / Foto: Getty Images/skaman306
Der menschliche Organismus folgt einem konstanten Rhythmus von etwa 24 Stunden. Schlafen und wach sein, Leistung und Stimmung werden von einer inneren Uhr getaktet, die sich nicht ausschalten lässt. Das konnten Chronobiologen bereits in den 1960er-Jahren nachweisen, als sie am damaligen Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie zahlreiche Testpersonen in freiwillige Isolation schickten.
Über Wochen bis Monate lebten die Probanden ohne Tageslicht, Radio, Fernseher und Uhren in einem Apartment, dessen einzige Verbindung zur Außenwelt ein Kühlschrank war. Aufstehen, essen und schlafen folgten auch unter Isolationsbedingungen einem konstanten Rhythmus, der sich nach wenigen Tagen auf 25 Stunden eingestellt hatte. Deutliche Verschiebungen gab es nur bei den Uhrzeiten. So gingen einige Testpersonen etwa bereits um 16 Uhr schlafen und standen um 1 Uhr morgens wieder auf.
Ohne äußere Einflüsse folgt die innere Uhr ausschließlich ihrem individuellen, genetisch vorgegebenen Rhythmus. Unter normalen Umweltbedingungen ist das Tageslicht einer der wichtigsten Zeitgeber für den Schlaf-wach-Rhythmus. So schlafen wir typischerweise, wenn es dunkel ist und erwachen, wenn es hell wird. Evolutionsbiologisch gesehen ist dieses Verhalten überlebensnotwendig. Das menschliche Auge ist nicht auf das Sehen in der Dunkelheit ausgelegt, das potenzieller Raubtiere aber schon.
Damit Menschen nicht nur sehen, sondern auch ganz deutlich spüren, dass es dunkel wird, verfügt der Körper über ein fein abgestimmtes System. Dreh- und Angelpunkt sind spezielle photosensitive Rezeptoren in der Netzhaut, die erst Anfang der 2000er-Jahre vom britischen Neurowissenschaftler Russell Foster entdeckt wurden. Sie dienen nicht dem Sehen, sondern registrieren ausschließlich die spektrale Zusammensetzung des vorhandenen Lichts.
Besonders empfindlich reagieren die Rezeptoren auf den Blauanteil im Licht. Ist dieser hoch, wie es typischerweise im Tageslicht der Fall ist, senden sie ein Signal an den suprachiasmatischen Nucleus (SCN) im Hypothalamus, der die Melatonin-Produktion unterdrückt. Kurz vor Sonnenuntergang steigt der Rotanteil im Tageslichtspektrum, und der Blauanteil geht zurück. Damit fällt der Startschuss für die Melatonin-Ausschüttung. Der Mensch wird müde und senkt sein Aktivitätsniveau. Der Körper fährt Stoffwechselvorgänge zurück, die Körpertemperatur sinkt und Wachstumshormone, die für die Zellreparatur notwendig sind, werden ausgeschüttet.
Gegen 3 Uhr morgens erreicht der Körper sein absolutes Tief. Nun beginnt der Organismus, Cortisol auszuschütten. Das Stresshormon wirkt antizyklisch zu Melatonin, regt den Stoffwechsel an und bereitet den Körper auf das Aufwachen vor. Seine Konzentration ist gegen 9 Uhr am höchsten und sinkt anschließend über den Tag ab. Mit dem ersten Morgenlicht wird die Produktion von Melatonin heruntergefahren, gleichzeitig wird verstärkt motivierendes und stimmungsaufhellendes Serotonin ausgeschüttet.
Heute hat kaum noch jemand die Möglichkeit, seinen Tag nach dem Tageslicht auszurichten. Schul- und Arbeitstage starten, auch wenn es im Winter morgens noch dunkel ist. Menschen, die im Schichtbetrieb arbeiten, müssen spätabends oder nachts wach und konzentriert sein. In großen Produktions- und Lagerhallen ist Tageslicht das ganze Jahr über Mangelware und selbst in Büroräumen reicht es nicht immer bis zu jedem Arbeitsplatz. Kunstlicht sorgt dafür, dass wir dennoch rund um die Uhr gut sehen können.
Es reicht, sich im Bereich des Lichttherapiegerätes aufzuhalten, direktes Hinschauen ist nicht nötig. / Foto: Adobe Stock/B. BOISSONNET / BSIP
Im Gegensatz zum natürlichen Tageslicht verändern sich die spektrale Zusammensetzung und die Helligkeit von Kunstlicht im Tagesverlauf nicht. Es ist auf optimales Sehen und nicht auf den Erhalt von Gesundheit oder Wohlbefinden ausgerichtet. Probleme wie Antriebslosigkeit, Stimmungsschwankungen, Konzentrationsstörungen, Leistungsabfall oder Schlafstörungen sind häufige Folgen, die viele Menschen vor allem zu Beginn der Herbstzeit deutlich spüren. Auch die saisonal abhängige Depression (SAD) ist dem Lichtmangel geschuldet. Betroffene haben Schwierigkeiten, morgens aufzustehen, obwohl sie abends bereits früher ins Bett gehen als in den Sommermonaten. Typisch ist zudem ein Heißhunger auf Schokolade und andere kohlenhydrathaltige Lebensmittel, was oft zu einer Gewichtszunahme führt.
Lichttherapiegeräte gehören heute zu den anerkannten Behandlungsmethoden von SAD. Sie geben großflächig helles, kühlweißes Licht im blauen Bereich ab. Oft reicht es bereits, wenn sich Betroffene eine halbe Stunde im hellen Licht des Geräts bewegen. Ein direktes Hinschauen ist nicht notwendig. Nebenbei kann zum Beispiel gefrühstückt werden, denn besonders effektiv ist die Therapie, wenn sie in den Morgenstunden durchgeführt wird. Sie teilt der inneren Uhr eindeutig mit, dass der Tag begonnen hat und der Körper aktiviert werden sollte.
Das Beleuchtungskonzept Human Centric Lighting folgt einem ähnlichen Prinzip wie die Lichttherapie. Auch hier wird die Erkenntnis genutzt, dass die Rezeptoren der Netzhaut zwar die spektrale Zusammensetzung des Lichts erfassen, aber nicht unterscheiden, ob es sich um natürliches Tageslicht oder Kunstlicht handelt. Im Gegensatz zur Lichttherapie wird Human Centric Lighting jedoch nicht punktuell, sondern den ganzen Tag und bei Bedarf über Nacht eingesetzt. Zum Beispiel in Büros und Produktionsstätten, Schulen, Krankenhäusern oder Seniorenwohnheimen.
Damit künstliche Beleuchtung biologisch wirksam wird, muss das künstliche Licht dem natürlichen Tageslicht möglichst genau nachempfunden werden. Das gilt für die spektrale Zusammensetzung ebenso wie für die Helligkeit. Das Licht des Himmels hat eine Lichtfarbe, die zwischen 6000 und 10000 Kelvin variiert. Damit die Rezeptoren in der Netzhaut das künstliche Licht überhaupt registrieren und über den Hypothalamus die gewünschten Reaktionen eingeleitet werden, muss die Lichtfarbe der Lampen oberhalb von 5300 Kelvin liegen.
Eine weitere wichtige Rolle spielt der Einfallswinkel des Lichts auf die Netzhaut. Damit das Licht die Photorezeptoren genau trifft, muss es wie das Tageslicht großflächig aus dem oberen Raum ins Auge fallen. Die Leuchten werden deshalb so platziert, dass sie die Decke und Wände flächig anstrahlen, die wiederum das Licht im richtigen Winkel reflektieren. Auf optimales Sehen in verschiedenen Arbeitsbereichen ist Human Centric Lighting nicht ausgerichtet. Es muss durch Lampen ergänzt werden, die Arbeitsflächen so ausleuchten, dass optimales Sehen möglich ist.
Wer nachts arbeiten muss, kann die Wachheit in der zweiten Nachthälfte mit kaltweißem Licht erhöhen. / Foto: Getty Images/Moyo Studio
Ein weiterer wichtiger Aspekt des Human Centric Lighting ist der erwünschte Nutzen. Soll der Schlaf-wach-Rhythmus von Mitarbeitern stabilisiert, das Wohlbefinden erhöht und die Gesundheit gefördert werden, setzen Experten beim künstlichen Lichtangebot auf eine möglichst genaue Nachahmung der spektralen Zusammensetzung des Tageslichts. Mit einer kurzzeitigen Erhöhung von Beleuchtungsstärke und Lichtfarbe zur Mittagszeit oder am frühen Nachmittag kann eine gezielte Aktivierung erwirkt werden. Um die Belastung durch Nachtschichten geringer zu halten, empfehlen Experten, in der ersten Nachthälfte Lichtquellen zu verwenden, die einen geringen Effekt auf den circadianen Rhythmus haben. In der zweiten Nachthälfte kann eine kurzzeitige Beleuchtung mit kaltweißem Licht die Wachheit erhöhen. Im Idealfall können Arbeitnehmer durch das Lichtkonzept zu Hause sofort einschlafen und erst am Nachmittag wieder aufwachen.
Auch Senioren können von einem guten Beleuchtungskonzept profitieren. Denn mit zunehmendem Alter unterscheidet der Organismus immer weniger zwischen Tag und Nacht. Der Schlafrhythmus wird unregelmäßig, Schlafphasen am Tag häufiger, da das Schlafbedürfnis insgesamt gleich bleibt. Mit dem Setzen von Beleuchtungsimpulsen können der Schlaf-wach-Rhythmus stabilisiert und lange Wachphasen in der Nacht reduziert werden.
Zu den wesentlichen Nachteilen biologisch wirksamer Beleuchtungskonzepte gehören die relativ hohen Anforderungen an die Planung. Im Idealfall sollten Licht- und Raumplanung Hand in Hand gehen, raten Experten. In den eigenen vier Wänden ist das nicht so einfach umsetzbar. Dennoch kann man auch hier einiges tun, um die Schlafqualität und das Wohlbefinden zu verbessern. Insbesondere in den Wintermonaten oder nach der Zeitumstellung sollte tagsüber kühles Licht verwendet werden. Untersuchungen im Schlaflabor der Psychiatrischen Universitätsklinik der Berliner Charité haben gezeigt, dass die Melatonin-Ausschüttung innerhalb von zehn Minuten deutlich zurückgeht, wenn Lampen mit tageslicht- oder kühlweißem Licht verwendet werden. Werden sie in der Küche oder im Badezimmer eingebaut, unterstützen sie den Körper bei der morgendlichen Aktivierung. Allerdings sollte man bedenken, dass sie am Abend das Einschlafen erschweren können.
Experten raten deshalb zu steuerbaren Lampen, die mit unterschiedlichen Weißlicht-Nuancen ausgestattet sind. So kann die Beleuchtung am Abend auf warmweißes Licht mit geringen Blauanteilen umgestellt werden, um die Melatonin-Produktion zu fördern. Am Morgen können zudem Lichtwecker das Aufstehen unterstützen. Sie erhöhen 30 Minuten vor der Weckzeit langsam die Beleuchtungsstärke und simulieren damit einen Sonnenaufgang, der das natürliche Erwachen fördern soll.