Therapie nicht immer nötig |
Isabel Weinert |
13.02.2025 12:00 Uhr |
Ticstörungen in ausgeprägter Form führen häufig ins soziale Abseits und werden bei Mädchen später und seltener diagnostiziert als bei Jungen. / © Getty Images/skynesher
»Tic-Störungen (TS), zu denen auch das Tourette-Syndrom gehört, sind neuropsychiatrische Störungen, die durch das Vorhandensein mehrerer plötzlicher, schneller, wiederkehrender und nicht-rhythmischer Bewegungen (motorische Tics) und/oder Äußerungen (vokale/phonetische Tics) gekennzeichnet sind«, definiert das Universitätklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, das Syndrom. Von Tourette sprechen Mediziner laut Neurologen und Psychiatern, wenn komplexe vokale und multiple motorische Tics kombiniert auftreten oder auch bei Tic-Störungen, die ohne Besserung länger als ein Jahr lang bestehen und bereits vor dem 18. Lebensjahr begonnen haben.
Das für Außenstehende klischeehafteste Symptom ist das Aussprechen sozial unangebrachter oder obszöner Wörter, auch in Wiederholung. Diese sogenannte »Koprolalie« tritt tatsächlich jedoch nur bei 10 bis 20 Prozent der Menschen mit Tourette auf. Mehrheitlich leiden die Betroffenen zusätzlich zum Beispiel auch unter ADHS, Angststörungen oder Depressionen.
Viele Tics verschwinden irgendwann von selbst. Deshalb bedarf es auch längst nicht bei jedem Tic einer Therapie. Sie ist aber indiziert, wenn der Tic dazu führt, dass sich das Kind verletzen könnte, wenn das Kind darunter leidet, auch weil seine Mitmenschen hänselnd und ausgrenzend darauf reagieren, und/oder wenn ein Tic die Leistungsfähigkeit oder auch den Schlaf beeinträchtigt.
Zu den motorischen Tics gehören unter anderem Blinzeln, Stirnrunzeln, Kopfnicken, Augenrollen, Hüpfen, Klatschen und Stampfen. Vokale Tics zeigen sich in Räuspern, Hüsteln, Zischen, Pfeifen, Grunzen oder Schnalzen. Die betroffenen Kinder bemerken die eigenen Tics oft gar nicht unbedingt selbst, sondern bekommen nur von der Umwelt irgendwann entsprechende Rückmeldung.
Bislang gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Tic-Form »Tourette« drei- bis viermal häufiger bei Jungen auftritt als bei Mädchen. Nun zeigte jedoch eine Studie, dass bei betroffenen Mädchen die Wahrscheinlichkeit für die Diagnose um 54 Prozent geringer liegt als bei Jungen, obwohl die Mädchen die Erkrankung haben. Geschlechterunterschiede bei Tic-Störungen müssten dringend weiter erforscht werden, so die Erstautorin, Marisela Elizabeth Dy-Hollins vom Department of Neurology am Massachusetts General Hospital in Boston, in der Fachzeitschrift »Neurology«. Neben der selteneren und späteren Diagnosestellung im Vergleich mit derjenigen bei Jungen begannen die Symptome von Tourette bei Mädchen etwas später, diejenigen motorischer oder verbaler Ticstörungen hingegen in jüngerem Alter,
Ticstörungen prägen sich vielfach bei Menschen aus, die genetisch vorbelastet sind. Doch auch unabhängig davon können sie sich entwickeln. Eine auslösende Rolle spielen dabei Streptokokken-Infekte. Auch bestimmte Verhaltensweisen einer werdenden Mutter wie Rauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum können das werdende Leben für Tics anfälliger machen. Das gilt auch für psychosozialen Stress in der Schwangerschaft.
Ob und wie ein Tic therapiert wird, können nur Fachärzte gemeinsam mit Betroffenen und deren Eltern entscheiden. In der »Europäische Leitlinie zu Diagnose und Therapie der Tic-Störungen« von 2021 nennen die Experten eine spezielle Verhaltenstherapie als Mittel der ersten Wahl, das sogenannte Habit Reversal Training. Wenn keine solche Therapie zeitnah beginnen kann oder wenn der Leidensdruck eine schnelle Besserung erfordert, empfehlen sie den Arzneistoff Aripiprazol. Beim Habit Reversal Training üben die Betroffenen Muskeln immer automatisierter anzuspannen, die den Tics entgegenwirken.
Viele betroffene Familien fühlen sich schon deutlich erleichtert, wenn sie umfassend über die Erkrankung aufgeklärt werden und erfahren, was dabei hilft, die Krankheit im Alltag zu bewältigen. In diesen Prozess beziehen Eltern wenn möglich auch Lehrer und Schulbegleiter ein.