Transidentität bei Minderjährigen |
Wenn transidente Jugendliche ihr Geschlecht wechseln wollen, steht ihnen ein langwieriger Prozess bevor. Die Entscheidung für oder gegen eine Transition muss gemeinsam mit Ärzten, Psychologen und Eltern getroffen werden. / Foto: Getty Images/Rawpixel
Menschen gelten als geschlechtsinkongruent oder transsexuell, wenn sie ihr biologisch-anatomisches Geschlecht und ihr Gender, also die sozialen beziehungsweise gesellschaftlich-kulturell geprägten Geschlechtsrollenerwartungen, als nicht übereinstimmend wahrnehmen. Eine Geschlechtsdysphorie (GD) liegt vor, wenn Menschen über einen längeren Zeitraum unter ihrer Geschlechtsinkongruenz (GI) leiden und dabei ihre psychische Gesundheit beeinträchtigt ist.
Eine aktuelle Analyse bundesweiter Routinedaten im Deutschen Ärzteblatt zeigt, dass sich die Zahl der Diagnose »Störung der Geschlechtsidentität« im Alter von 5 bis 24 Jahren von 2013 bis 2022 in Deutschland verachtfacht hat. Schätzungsweise 1,5 bis 2 Prozent der Kinder und Jugendlichen sollen betroffen sein. Warum das so ist, ist nicht klar.
Die Empfehlungen für den Umgang mit Trans-Kindern und -Jugendlichen in der Medizin werden derzeit für den deutschsprachigen Raum überarbeitet. Der Entwurf der »S2k-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter« unterstützt dabei den sogenannten affirmativen Therapieansatz, das heißt, er stärkt den Wunsch der Minderjährigen zur Transition. Unter anderem dafür wird er kritisiert. Zunehmend äußern sich auch Menschen öffentlich, die ihre körperliche Transition bereuen und detransionieren, also ihr ursprüngliches Geschlecht zurückhaben, möchten. Das ist aber nicht so einfach, eine Transition ist nicht komplett reversibel. Befürworter der Geschlechtstransition sprechen jedoch von einer Minderheit an Betroffenen.
Die Übersichtsarbeit »Pubertätsblockade & Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie« des Kinder- und Jugendpsychiaters Professor Dr. Florian Zepf vom Universitätsklinikum Jena und seinen Kollegen ist aktuell in der »Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie« erschienen. Ihr zufolge werden Minderjährige mit GD in Deutschland »oftmals im Kontext von Einzelfallentscheidungen« behandelt, mittels Pubertätsblocker und/oder gegengeschlechtlicher Hormone, gegebenenfalls auch mit einer Nichtbehandlung.
Mit den sogenannten Pubertätsblockern wollen Mediziner den Betroffenen mehr Zeit für die Identitätsfindung ermöglichen. Bei den Medikamenten handelt es sich um Gonadotropin-Releasing-Hormon-(GnRH-)Analoga. GnRh regt physiologisch ab Einsetzen der Pubertät die Ausschüttung der Geschlechtshormone an. Die GnRH-Analoga blockieren die Bindungsstellen für GnRH und verhindern so die Produktion von Testosteron oder Estrogen. Die Pubertät wird also erst mal auf Eis gelegt.
Werden die GnRH-Analoga wieder abgesetzt, ist eine physiologische Entwicklung im biologischen Geschlecht inklusive Menstruation und Schwangerschaft laut Zepfs Artikel prinzipiell möglich, aber nicht unbedingt eine normale psychosoziale Entwicklung. Denn die Pubertät findet nun zeitversetzt zu anderen gleichaltrigen Jugendlichen statt. Auch sei nicht belegt, dass »die Wirkung der Gabe von Pubertätsblockern vollständig reversibel sei«. Mögliche Langzeiteffekte einer Pubertätsblockade seien bislang unklar.
Wollen die Jugendlichen schließlich transitionieren, bekommen sie in einem zweiten Schritt gegengeschlechtliche Hormone (CSH, cross-sex hormones beziehungsweise GAHT, geschlechtsangleichende Hormontherapie), also Testosteron, das beispielsweise den Bartwuchs auslöst, oder Estrogen, das die Brust wachsen lässt.
Da die so ausgelösten Veränderungen teilweise nicht rückgängig zu machen sind, müssen vor Therapiebeginn eine klare Diagnose und eine Indikationsstellung durch einen Psychotherapeuten oder Psychiater vorliegen. Der Patient muss vor Therapiebeginn ausführlich über die Wirkungen inklusive möglicher Nebenwirkungen, den zeitlichen Verlauf sowie Grenzen aufgeklärt werden. Eine GAHT ist Experten zufolge – das schriftlich dokumentierte Einverständnis der Erziehungsberechtigten und eine ausreichende Reife des Jugendlichen vorausgesetzt – dann ab einem Alter von etwa 16 Jahren möglich.
Was minderjährigen Betroffenen bewusst sein sollte: Ihnen droht Unfruchtbarkeit, wenn sie nach einer Pubertätsblockade CSH erhalten. Ovarialgewebe und Spermien können jedoch vor Beginn der CSH-Gabe gewonnen und eingefroren werden. Die Minderjährigen lehnten dies jedoch oft ab, weil sie den Weg der Gewinnung als belastend empfinden, heißt es in Zepfs Artikel. Etablierte Standards für eine Fertilitätsberatung von Minderjährigen mit GD fehlen in Deutschland.
Der dritte Schritt einer gegengeschlechtlichen Behandlung, den auch Minderjährige bereits gehen können, ist eine Operation, etwa das Entfernen der Brust und Vagina und ein anschließender Penisaufbau aus Hauttransplantaten oder ein Penisimplantat beziehungsweise die Entfernung von Penis und Hoden sowie das Anlegen einer Neovagina.
Ob all diese Behandlungen die Symptome einer GD lindern und die psychische Gesundheit bei betroffenen Kindern und Jugendlichen verbessern, dazu gibt es nach aktuellem Kenntnisstand keine medizinische Evidenz. Daher hatte der 128. Deutsche Ärztetag im Mai die Bundesregierung aufgefordert, die Gabe von Pubertätsblockern, gegengeschlechtlichen Hormonen sowie Operationen bei Minderjährigen nur innerhalb kontrollierter wissenschaftlicher Studien zu gestatten. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sollen dann in die Überarbeitung der Leitlinie fließen. Andere Länder, etwa Großbritannien, haben den Zugang Jugendlicher zu den gegengeschlechtlichen Therapien bereits eingeschränkt und setzen vermehrt auf eine psychosoziale Unterstützung der Betroffenen.
»Geschlechtsmerkmale verändernde Operationen bei Minderjährigen sind meines Erachtes rechtlich hoch problematisch wegen der ,Ersatzeinwilligungʽ durch die Eltern und ethisch sowieso. Bereits beim Einsatz von Pubertätsblockade und gegengeschlechtlicher Hormontherapie geht es darum, verschiedene Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen und zu entscheiden, was das höhere Rechtsgut ist«, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater und Experte für Geschlechtsdysphorie, Dr. Alexander Korte, vom LMU-Klinikum München gegenüber PTA-Forum.
Hier konkurriert das Recht auf Selbstbestimmung der Minderjährigen mit der Schutzverpflichtung von Sorgeberechtigten und Staat. Die Frage ist: Inwiefern kann ein Minderjähriger frei über sich entscheiden und inwiefern muss er vor sich geschützt werden? In der Psychiatrie ergibt sich ein solcher Konflikt laut Korte häufiger, etwa bei Menschen mit Depressionen, die suizidal werden, oder bei Menschen mit Anorexie, die immer weiter abnehmen wollen.
Ein weiterer Punkt ist die Einwilligungsfähigkeit. Laut Korte müssen hierzu einige Voraussetzungen erfüllt sein: Einsichtfähigkeit, Urteilsfähigkeit sowie die Steuerungs- und Entscheidungsfähigkeit, aus der gewonnenen Einsicht und dem gefällten Urteil eine Handlung ableiten zu können. Bei einem Erwachsenen ist diese Einwilligungsfähigkeit gegeben, bei einem Minderjährigen bedarf sie laut Korte der Feststellung durch den Arzt und muss begründet sein. Denn die Fähigkeit zur Einwilligung benötigt Lebenserfahrung, die erst allmählich im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung wächst. Die Frage ist hier, wo die Schwelle liegt, die Tragweite einer Entscheidung zu erfassen.
»Je folgenreicher der Eingriff, desto fortgeschrittener sollte die Persönlichkeitsentwicklung sein«, so Korte. Dabei sei nicht das kalendarische Alter entscheidend, sondern das Entwicklungsalter. Die psychosexuelle Entwicklung und Identitätsfindung ist seiner Meinung nach nicht mit 17 Jahren abgeschlossen. Dazu gibt es aber unterschiedliche Ansichten unter Medizinern und Juristen.
Auf der anderen Seite hat ein Kind das Recht auf einen eigenen Willen, das Recht, seinen Wunsch zu äußern, sowie unabhängig von seiner Einwilligungsfähigkeit das Recht auf Teilhabe an der Entscheidungsfindung. »Der Kindeswille entspricht jedoch nicht unbedingt dem Kindeswohl. Sämtliche Entscheidungen sind jedoch am Kindeswohl auszurichten. Das Kindeswohl ist das größte Rechtsgut«, so Korte. Welcher Umgang mit GD bei Minderjährigen am ehesten dem Kindeswohl entspricht, ist aktuell Gegenstand der Diskussionen.
Die Pflicht des behandelnden Arztes ist es, im Rahmen des sogenannten Shared Decision Making einen informierten Konsens zwischen ihm, Minderjährigem und Sorgeberechtigten herzustellen und diese über Vor- und Nachteile der medizinischen Maßnahmen, Langzeitfolgen, Risiken und Gefahren zu informieren. Zu diskutieren bleibt, ob selbst die Eltern aufgrund der weitreichenden Folgen bei mangelnder Evidenz in eine Behandlung ihrer Kinder mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen – beides im Off-Label-Gebrauch – sowie Operationen überhaupt informiert einwilligen können.
Wie die Interessengemeinschaft »Transteens- Sorge berechtigt« PTA-Forum mitteilt, gebe es Fälle, in denen Minderjährige per Familiengericht medizinische Maßnahmen erzwingen wollen. Durch eingeschaltete Jugendämter erübrige sich meist das Familiengericht. Aber: »In einigen Fällen sahen sich Eltern durch den Verfahrensverlauf gezwungen, der Medikation mit Hormonen stattzugeben, um die Gesundheitsfürsorge für ihr Kind nicht komplett zu verlieren.« »Transteens - Sorge berechtigt« und auch andere Organisationen kritisieren, dass die Diagnose GD/GI bei einigen Kindern voreilig gestellt werde. Komorbiditäten und frühere Traumata würden ignoriert. Auch werde in einigen Fällen mit der drohenden Suizidgefahr ein Druckmittel für die Eltern aufgebaut. Zudem hielten sie die von den behandelnden Ärzten bereitgestellten Informationen oft für unvollständig.