Unterschätzte Promille in der Schwangerschaft |
Barbara Döring |
24.04.2023 11:30 Uhr |
Jedes Glas Alkohol in der Schwangerschaft kann für das Ungeborene schwere Folgen haben. / Foto: Adobe Stock/Minerva Studio
Ein Glas Bier in gemütlicher Runde, ein Schoppen Wein zum Essen – Alkohol ist in Deutschland ein allgegenwärtiges Genussmittel und gleichzeitig das Umweltgift, dem der Mensch am häufigsten ausgesetzt ist. Wenn dabei das richtige Maß gehalten und es nicht zur täglichen Gewohnheit wird, halten sich die gesundheitlichen Risiken im Rahmen. Ganz anders in der Schwangerschaft: Dabei sollte die absolute Regel gelten: null Promille und kein bisschen mehr. Denn egal, ob hin und wieder nur ein wenig getrunken wird oder die werdende Mutter auch nur ein einziges Mal über die Stränge schlägt: Alkohol ist für die Gesundheit des Ungeborenen unberechenbar und kann eine Vielzahl körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen verursachen.
In Deutschland kommen jedes Jahr etwa 10.000 Kinder mit alkoholbedingten Schädigungen zur Welt. Dabei gibt es unterschiedliche Ausprägungen. Der Überbegriff »fetale Alkoholspektrum-Störung« fasst alle Formen zusammen. Etwa 3000 Kinder zeigen das als fetales Alkoholsyndrom (FAS) bezeichnete Vollbild mit körperlichen und psychischen Auffälligkeiten. Typische äußerliche Zeichen sind geringes Geburtsgewicht, körperliche Missbildungen wie Herzfehler und Nierenschäden sowie anatomische Auffälligkeiten im Gesicht wie eine verkürzte Lidspalte und eine schmale Oberlippe. Kinder mit FAS sind bei der Geburt kleiner und leichter als gesunde Neugeborene, die Muskeln und das Unterhautfettgewebe sind geringer ausgebildet. Manche Kinder holen das Wachstum nach der Geburt noch auf, oft erreichen sie jedoch als Erwachsene eine geringere Körpergröße. Doch auch das partielle fetale Alkoholsyndrom (pFAS) ohne das Gesamtbild der körperlichen Merkmale kann vielfältige Einschränkungen mit sich bringen und ist nicht als abgeschwächte Form zu betrachten. Studien zeigen, dass die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten ebenso ungünstig verlaufen können wie beim FAS.
Die Merkmale des fetalen Alkoholsyndroms hat bereits der griechische Universalgelehrte Aristoteles 300 v. Chr. erwähnt. Doch erst 1968 wurde das FAS erstmalig in der Fachliteratur beschrieben. Medizinische Fachgesellschaften empfahlen schließlich in den 1980er-Jahren, den Alkoholkonsum in der Schwangerschaft zu reduzieren. Inzwischen ist jedoch klar, dass sich kein Grenzwert ermitteln lässt, unter dem Alkohol gefahrlos konsumiert werden könnte. Seit 2005 wird deshalb zur völligen Abstinenz in der Schwangerschaft geraten.
Dennoch ist es offenbar nicht selbstverständlich, in der Schwangerschaft auf Genussmittel zu verzichten. Bei Befragungen im Rahmen des Gesundheitsmonitorings »Gesundheit in Deutschland aktuell« des Robert-Koch-Instituts von 2012 gaben 20 Prozent aller Frauen an, in der Schwangerschaft moderat Alkohol konsumiert zu haben. 8 Prozent tranken Alkohol in riskanten Mengen. So kommt selbst »binge drinking« mit fünf oder mehr Gläsern Alkohol gelegentlich vor: Bei 12 Prozent der Frauen seltener als einmal im Monat, bei 4 Prozent einmal im Monat und 0,1 Prozent konsumierten entsprechende Mengen mindestens einmal in der Woche.
Beim fetalen Alkoholsyndrom werden verschiedene Formen unterschieden, je nachdem, welche Symptome aufgrund von bestätigtem oder vermutetem Alkoholkonsum in der Schwangerschaft vorliegen.
Das Problem: Der Alkohol gelangt aus dem mütterlichen Kreislauf über die Plazenta in das Blut des Fetus und kann so ungehindert die Organe und vor allem das Nervensystem schädigen. Gönnt sich eine Schwangere ein Gläschen Sekt, bemerkt sie selbst vielleicht nur einen kleinen Schwips und ihre Leber macht sich gleich an die Entgiftung. Anders beim Fetus: Da ist die unreife Leber noch nicht in der Lage, schädigende Stoffe schnell zu beseitigen. Die Ausscheidung erfolgt bei ihm, indem der Alkohol über die Plazenta in den mütterlichen Kreislauf zurückfließt. Der Blutalkoholspiegel sinkt deshalb viel langsamer als bei der Mutter. Das eine Glas Sekt kann beim Fetus deshalb zu einem tagelangen Rausch führen und dabei bereits vorhandene Zellen schädigen und die Zellneubildung behindern. Die Organbildung, das Körperwachstum und das Nervensystem können also beeinträchtigt werden.
Wie stark sich der Alkohol auswirkt und welche Organe und Körperteile betroffen sind, hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt das Zellgift konsumiert wurde, da es für die Organe unterschiedliche Entwicklungsfenster gibt. So finden strukturelle Schädigungen der Organe im ersten Schwangerschaftsdrittel statt, das Gehirn ist dagegen während der gesamten Zeit der Schwangerschaft anfällig für die toxische Wirkung. Seine Entwicklung beginnt bereits zwischen dem 19. und 21. Embryonaltag und hält bis nach der Geburt an. Frauen, die getrunken haben, als sie noch nicht wussten, dass sie schwanger waren, müssen sich jedoch in der Regel keine Gedanken machen. In den ersten 14 Tagen nach der Befruchtung gilt das Alles-oder-Nichts-Prinzip: Wäre eine Eizelle schwer geschädigt, würde sie sich nicht weiterentwickeln und mit einer Regelblutung abgehen.
Nach dieser Anfangsphase besteht das Risiko für alkoholbedingte Gehirnschäden auch durch einzelne Spitzen des Blutalkoholgehalts. Wenn vor allem in den ersten Schwangerschaftswochen über den Durst hinaus getrunken wurde, kann dieses »binge drinking« mindestens genauso starke Auswirkungen haben, wie gleichmäßiges Trinken über die gesamte Schwangerschaft hinweg. Der gleichzeitige Konsum von Genussmitteln und Drogen wie Tabak oder Cannabis können die fruchtschädigende Wirkung von Alkohol noch verstärken.
Frauen, denen es schwerfällt, in der Schwangerschaft komplett auf Alkohol zu verzichten, finden auf der Website IRIS Unterstützung mit Übungen und psychologischen Tipps. Die Programme sind auf die persönlichen Konsumgewohnheiten zugeschnitten, aber anonym: www.iris-plattform.de
Die Broschüre »Andere Umstände – neue Verantwortung« mit Informationen und Tipps zum Alkoholverzicht in Schwangerschaft und Stillzeit gibt es bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum kostenlosen Download in der Kategorie Familienplanung – Schwangerschaft und Geburt: www.bzga.de.
Grundsätzlich können alle Organe des Fetus durch Alkohol und seinen Metaboliten Acetaldehyd geschädigt werden. Entsprechend vielfältig ist die Zahl möglicher Folgen: Mehr als 400 Komorbiditäten wurden in Studien ermittelt. Besonders gefährdet sind Organe mit schnellem Wachstum und hoher Stoffwechselaktivität wie das Gehirn. Neuropathologische Veränderungen sind bei betroffenen Kindern deshalb häufiger zu beobachten als äußerliche Fehlbildungen. Das bedeutet, dass Leistungsstörungen auch dann auftreten können, wenn keine typischen körperlichen Merkmale zu erkennen sind. Dann ist von einer alkoholbedingten entwicklungsneurologischen Störung (ARND) die Rede.
90 % aller Kinder mit alkoholbedingten Veränderungen leiden unter hirnorganisch bedingten Auffälligkeiten, darunter Verhaltensstörungen wie Reizbarkeit und Hyperaktivität sowie eine verminderte geistige Entwicklung mit geringerer Intelligenz und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Kinder sind weniger aufnahmefähig, haben Probleme, komplexe Aufgaben zu lösen und Sinnzusammenhänge zu verstehen. Sowohl Kurz- als auch Langzeitgedächtnis sind beeinträchtigt. Kinder mit fetalem Alkoholsyndrom sind in der Schule auf besondere Förderung angewiesen. Für Familien sind die emotionalen Auffälligkeiten oft noch belastender. Die meisten betroffenen Kinder sind unruhig, impulsiv und hyperaktiv. Alltägliche Routinen werden nur mühsam erlernt und schnell wieder vergessen. Sie können Risiken oft nicht richtig einschätzen und bringen sich leicht in gefährliche Situationen. Das geringe soziale Feingefühl führt dazu, dass die Kinder von anderen schnell abgelehnt und ausgeschlossen werden.
Eine spezielle FAS-Therapie gibt es nicht. Die Betreuung muss individuell angepasst werden. Mit Maßnahmen wie Frühförderung, Krankengymnastik, Logopädie oder Ergotherapie lassen sich die psychischen und motorischen Einschränkungen oft verbessern. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen können ergänzend sinnvoll sein, um zu lernen, mit konkreten Alltagsproblemen besser umzugehen. Doch auch im Erwachsenenalter sind FAS-Patienten in der Regel weithin auf Anleitung und Alltagshilfe angewiesen. Eine medikamentöse Therapie kommt in Betracht, wenn die Kriterien einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfüllt sind. In Studien wird untersucht, inwieweit sich die Ernährung nach der Geburt auf die psychische Entwicklung auswirkt. Präklinische Studien hatten bereits einen positiven Effekt einer Supplementierung mit Cholin gezeigt.
Alkoholgenuss in der Schwangerschaft ist nicht allein Sache der Schwangeren, sondern ein gesellschaftliches Thema. Bis vor nicht allzu langer Zeit wurde sogar mitunter ein Schlückchen zur Beruhigung von Mutter und Kind empfohlen. Manch eine Frau muss sich noch heute rechtfertigen, wenn sie dankend ablehnt. Ganz anders als es wohl bei einer Zigarette der Fall wäre. Das Umfeld und der Partner können eine große Hilfe sein, wenn sie die Frau in der Schwangerschaft unterstützen, mit dem Alkoholstopp konsequent zu sein. Vielleicht ist der Partner auch selbst bereit, zu verzichten und seinen Konsum zu überdenken. Auch wenn es nur für die begrenzte Zeit von Schwangerschaft und Stillzeit ist – ein Verzicht garantiert, alkoholbedingte Schäden zu 100 % zu vermeiden, die ein Kind ein Leben lang begleiten. /