Vom tödlichen Gift zum therapeutischen Multitalent |
Nicht nur in der ästhetischen Medizin: Botulinumtoxin hat zahlreiche Indikationen. / Foto: Getty Images/Rick Gomez
Botulinum-Neurotoxine (BoNT) zählen zu den stärksten bekannten Giften der Welt. Bereits wenige Mikrogramm sind ausreichend, um einen Menschen zu töten, nicht einmal 20 g wären nötig, um die gesamte Menschheit auszurotten. Identifiziert sind derzeit acht Serotypen (A bis H), von denen nur die Typen A und B therapeutisch genutzt werden. Beide binden nach der Injektion in einen Muskel beziehungsweise in Schweiß-, Tränen- oder Speicheldrüsen an die präsynaptische Nervenendigung und hemmen die Ausschüttung von Acetylcholin. Die Übertragung von Nervensignalen wird dadurch vermindert bis gänzlich unterbrochen, es kommt zur Entspannung, Schwächung oder Ruhigstellung des Muskels beziehungsweise der behandelten Drüsen.
Die Wirkung von Botulinumtoxin – bekannt vor allem unter dem Markennamen Botox® – ist lokal auf die Injektionsstelle begrenzt und dosisabhängig. Das bedeutet: Je höher die Dosis, umso mehr Synapsen werden blockiert und umso stärker fällt die Schwächung der Zielregion aus. Botox-Behandlungen sollten deshalb immer von erfahrenen Medizinern durchgeführt werden. Diese klären ihre Patienten auch darüber auf, dass die Wirkung zeitverzögert, im Durchschnitt nach etwa drei Tagen, einsetzt. Zwei bis vier Wochen später wird ein Plateau erreicht, anschließend lässt die Wirkung allmählich wieder nach.
Nach durchschnittlich drei Monaten haben sich die Nervenendigungen so weit regeneriert, dass die Impulsübertragung wiederhergestellt ist. Zur Dauertherapie muss das Neurotoxin in Abständen von etwa drei Monaten injiziert werden.
Der Augenarzt Alan B. Scott aus San Francisco setzte Botulinumtoxin A im Jahr 1980 zum ersten Mal zur Behandlung schielender Patienten ein. Heute sind Botulinum-Neurotoxine für viele verschiedene Krankheitsbilder zugelassen. Dazu zählen Dystonien, bei denen es aufgrund ungewollter Muskelanspannungen zu ungewöhnlichen Körperhaltungen oder Bewegungen kommt. Treten diese am Hals auf, dreht oder neigt sich der Kopf unbeabsichtigt und die Halsmuskulatur verkrampft. Botulinumtoxin gilt hier als effektivste Therapie und erste Behandlungsoption.
Sind die Augenlider betroffen, kommt es zu unkontrolliertem Blinzeln, erschwertem Öffnen oder permanentem Verschluss der Lider. Lidkrämpfe können eine funktionelle Blindheit verursachen und zählen zu den häufigsten Indikationen für eine Behandlung mit Botulinumtoxin. Dystonien können auch ausschließlich tätigkeitsbezogen, zum Beispiel beim Schreiben oder Musizieren, auftreten. Eine Behandlung kann auch hier hilfreich sein, es gilt jedoch abzuwägen, inwieweit die Schwächung der beteiligten Muskeln bei anderen Tätigkeiten einschränkend sein kann. Aus Langzeitstudien ist bekannt, dass etwa 50 Prozent der Betroffenen die Behandlung aufgrund unbefriedigender Ergebnisse vorzeitig abbrechen.
Nach Schädigungen des Gehirns durch einen Schlaganfall, einen Unfall oder eine genetische Erkrankung können Lähmungen und Muskelverspannungen auftreten, die bei schnellen Bewegungen zunehmen und die Motorik der Betroffenen stark einschränken (Spastik). Einfache Alltagstätigkeiten wie Ankleiden, Essen oder Gehen werden dadurch stark erschwert oder unmöglich. Botulinumtoxin ist hier hier auch für die Behandlung von Kindern zugelassen und meist Bestandteil eines umfassenden Therapiekonzepts, zu dem auch Physio- und Ergotherapie, Orthopädietechnik und bei einigen Patienten operative Behandlungsmethoden zählen.
Als wirksam hat Botulinumtoxin sich auch bei verschiedenen Schmerzarten und -syndromen erwiesen. Für die Behandlung der chronischen Migräne bei Erwachsenen ist die Behandlung bereits seit 2011 zugelassen. Voraussetzung für die Botox-Behandlung ist, dass die Kopfschmerzen an mindestens 15 Tagen pro Monat bestehen und an mindestens acht Tagen die Kriterien einer Migräne erfüllen. Prophylaktische Migräne-Medikationen müssen in ihrer Wirksamkeit unzureichend sein oder eine Unverträglichkeit bestehen.
Einen enormen Bekanntheitsgrad erreichte Botulinumtoxin nach seiner Einführung in die ästhetische Medizin. Das Glätten von Sorgen- und Zornesfalten auf der Stirn oder das Mildern von Krähenfüßen rund um die Augen zaubert Anwender schnell ein paar Jahre jünger. Die Angst vor einer starren Mimik oder einem unnatürlichen Gesichtsausdruck ist dabei meist unbegründet. Erfahrene Mediziner injizieren Botulinumtoxin nur in die Muskeln, deren Anspannung die Falten verursacht. Alle anderen bleiben unbeeinflusst. Die Prozedur an sich kann etwas unangenehm sein, erfordert anders als die Behandlung von Spastiken in der Regel aber keine örtliche Betäubung oder Narkose.
Etwa eine Million Menschen in Deutschland sind von übermäßigem Schwitzen betroffen. Oft tritt es an den Händen, Füßen und Achselhöhlen auf und wird von Betroffenen als enorm belastend und lebenseinschränkend erlebt. Zur Verfügung stehen verschiedene therapeutische Maßnahmen, die Wirksamkeit ist mitunter jedoch nicht ausreichend oder die Anwendung geht mit Nebenwirkungen einher. Für die Behandlung der Achselhöhle ist Botulinumtoxin eine zugelassene Alternative, die die Schweißproduktion für durchschnittlich vier bis sechs Monate effektiv senkt.
Von Vorteil ist, dass die Wirkung auf die ekkrinen Schweißdrüsen begrenzt ist. Die apokrinen Drüsen bleiben unbeeinflusst, wodurch der Körpergeruch erhalten bleibt. Die Behandlung von Hand- und Fußflächen gestaltet sich komplizierter und für die Patienten deutlich schmerzhafter. Eine Zulassung für diese Indikation gibt es derzeit nicht.
Unkontrollierter und übermäßiger Speichelfluss ist bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen ein Begleitsymptom, das Hautbeschwerden und Lungenentzündungen begünstigt sowie zur Stigmatisierung der Betroffenen beiträgt. Botulinumtoxin ist deshalb seit 2019 für die Behandlung zugelassen.
Die Injektion von Botulinumtoxin gilt als wirksame, sichere und gut verträgliche Behandlungsmethode. Nebenwirkungen können vor allem im Bereich der Injektionsstellen auftreten. Dazu zählen Rötungen, Schwellungen oder blaue Flecken an den Einstichstellen. In der Faltenbehandlung kann eine zu hohe Dosis neben einer eingeschränkten Mimik zu Schluckstörungen, Mundtrockenheit und Kopfschmerzen führen. Bei Dystonien am Hals zählen Stimmveränderungen und Heiserkeit zu den möglichen Nebenwirkungen.
Die Behandlung von Lidkrämpfen kann mit Nebenwirkungen wie ein vorübergehendes Hängen der Augenlider, verstärktes Tränen der Augen und selten Doppeltsehen einhergehen. Meist klingen die Beschwerden innerhalb von zwei Wochen wieder vollständig ab.
In der Dauerbehandlung mit Botulinumtoxin entwickeln einige Patienten neutralisierende Antikörper. Die Wahrscheinlichkeit hierfür steigt mit der Häufigkeit der Injektion, der Höhe der Einzeldosis und der kumulierten Dosis an, zudem spielt die Formulierung des Botulinumtoxin-Präparats eine Rolle. Ausgenommen von einer Behandlung mit Botulinumtoxin sind Menschen mit bestimmten Formen des Grünen Stars oder einer Muskelschwäche. Bei schwangeren Frauen wird der Einsatz prinzipiell vermieden, kann jedoch in begründeten Ausnahmefällen und nach gründlicher Nutzen-Risiko-Abwägung durchgeführt werden.
Das Bakterium Clostridium botulinum und seine Neurotoxine konnten Ende des 19. Jahrhunderts als Ursache des Botulismus, einer gefürchteten Lebensmittelvergiftung, identifiziert werden. Bis heute gibt es immer wieder mal vereinzelte Fälle, die meist auf den Konsum von Lebensmitteln in Dosen oder Einmachgläsern zurückzuführen sind. Auslöser sind Fehler während des Konservierungsprozesses, die zu einer unzureichenden Abtötung des Erregers führen.
Unter anaeroben Bedingungen beginnen diese mit der Ausbildung von Toxinen. Hier reichen bereits kleinste Mengen, um einen Botulismus auszulösen. Auf der sicheren Seite sind Konsumenten, wenn Konservenwaren vor dem Verzehr noch einmal auf über 80 °C erhitzt werden, da das Neurotoxin hitzelabil ist.