Von der Leidenschaft zur Sucht |
Verhaltenssüchte spielen sich heute in verstärktem Maß online ab – die Coronapandemie hat ihren Teil dazu beigetragen. / Foto: Adobe Stock/wpadington
Millionen Menschen haben Hobbys. Sie dienen der Entspannung, lassen Alltagssorgen vergessen oder erzeugen Glücksgefühle. Bei vielen nehmen sie einen großen Teil der Freizeit ein, dennoch würden die meisten Menschen ihr Verhalten nicht als problematisch betrachten. Das sehen auch Experten so. Verhaltensweisen gelten auch nicht automatisch als krankhaft, nur weil sie vielleicht nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Ein Suchtcharakter ist erst erreicht, wenn es zum Kontrollverlust kommt und der Betroffene unter seinem Verhalten sowie den sich daraus ergebenden Konsequenzen leidet.
Damit aus einem normalen Verhalten eine krankhafte Sucht wird, müssen mehrere Komponenten zusammentreffen. Dazu gehören neben persönlichen Faktoren wie zum Beispiel Introvertiertheit, Ängstlichkeit oder eine materielle Werteorientierung auch soziale Komponenten (etwa familiäre oder berufliche Probleme) und ein Zugang zur suchtauslösenden Tätigkeit. Betroffene müssen die Erfahrung machen, dass sie durch das Ausüben eines an sich harmlosen Verhaltens in der Lage sind, ihre Emotionen effektiv zu regulieren.
Möglich wird dies, da Handlungen, die Verhaltenssüchte verursachen können, Belohnungszentren im Gehirn aktivieren, positive Emotionen erzeugen und negative verdrängen. Wie bei substanzbezogenen Abhängigkeiten kommt es jedoch auch bei einer Verhaltenssucht mit der Zeit zu einer Toleranzentwicklung. Das suchtauslösende Verhalten muss immer exzessiver gelebt werden, um dasselbe emotionale Ergebnis zu erzeugen.
Typisch für den Verlauf einer Verhaltenssucht ist die zunehmende Konzentration auf die suchtbezogene Tätigkeit, die stete Abnahme der Verhaltensvielfalt und ein fortschreitender sozialer Rückzug. Betroffene verlieren regelmäßig und in immer kürzeren Abständen die Kontrolle über Beginn, Häufigkeit, Intensität, Dauer und Beendigung der suchtverursachenden Aktivität. Das führt zu massiven Problemen in familiären, sozialen und beruflichen Bereichen. Verhaltenssüchte können mit hohen finanziellen Ausgaben einhergehen, die zu Verschuldung und Beschaffungskriminalität führen können.
Aufgrund der negativen Konsequenzen unternehmen Betroffene meist durchaus Versuche, Widerstand gegen das suchtauslösende Verhalten zu leisten. Bestandteil der Verhaltenssucht ist jedoch, dass Handlungs- und Entscheidungsfreiheit verloren gehen. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, den Widerstand aus eigener Kraft aufrechtzuerhalten. Das Gefühl des Scheiterns wird in der Regel mit dem suchtauslösenden Verhalten kompensiert, wodurch die Sucht abermals verstärkt wird. Gleichzeitig fördert es die Entwicklung von Depressionen, die ein häufiger Begleiter aller Verhaltenssüchte sind und im schlimmsten Fall zum Suizid führen können.
In Deutschland ist etwa 1 Prozent der Bevölkerung von einer Glücksspielsucht betroffen, kaufsüchtig sollen etwa 5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung sein. Repräsentativen Bevölkerungsstudien zufolge weisen etwa 1 bis 2 Prozent der Erwachsenen ein suchtartiges Internetnutzungsverhalten auf, bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen etwa 3 bis 5 Prozent. Die wahren Prävalenzen könnten nach Ansicht von Experten noch deutlich darüber liegen. Dafür spricht, dass Verhaltenssüchtige dazu neigen, ihr Verhalten aufgrund von Schamgefühlen äußerst gut zu verbergen.
Insbesondere bei Frauen ist bekannt, dass diese sich häufiger aufgrund von sekundär bestehenden Symptomen wie Depressionen oder Ängsten Hilfe suchen, das exzessive Verhalten dabei aber nicht thematisieren. Zudem wird seit einiger Zeit beobachtet, dass der Konsum legaler Drogen zurückgeht und zunehmend von Verhaltenssüchten abgelöst wird.
Und nicht zuletzt hat die Coronapandemie für einen starken Anstieg digitaler Süchte wie der Sucht nach sozialen Netzwerken, Internet-Pornografie, Online-Shopping oder -Glücksspiel gesorgt. Dr. Klaus Wölfling, Leiter der Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Mainz, spricht in einer Pressemitteilung von einem Patientenzuwachs um 25 Prozent seit dem Jahr 2021.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde stehen das Abhängigkeitspotenzial, die Gesundheitsrisiken sowie die schwerwiegenden sozialen und beruflichen Folgen von Verhaltenssüchten denen von substanzbezogenen Süchten in nichts nach. Ein frühzeitiges Erkennen, Gegensteuern und Behandeln ist wichtig und erhöht die Erfolgschancen, die Sucht zu kontrollieren. Das Hilfsangebot für Betroffene ist inzwischen relativ groß und reicht von Strategien zur Selbsthilfe bis hin zu stationären Therapieangeboten (siehe Kasten).
Entscheiden sich Betroffene für eine Therapie, steht hier anders als bei substanzgebundenen Süchten nicht die Abstinenz vom suchtauslösenden Verhalten im Vordergrund. Ein vollständiges Meiden ist in der Regel nur bei der Glücksspielsucht am Automaten oder im Casino möglich. Bei anderen Verhaltenssüchten besteht das Ziel der Behandlung darin, einen kontrollierten Umgang mit der suchtauslösenden Tätigkeit zu erlernen. So sollte ein Internetspielsüchtiger zwar das Ausüben suchtartig genutzter Internetspiele unterlassen, kann das Internet für andere Zwecke aber weiterhin benutzen. Bei einer Kaufsucht kann es sinnvoll sein, bestimmte Online-Shops zu meiden.
In erster Linie geht es darum, das Kaufverhalten auf ein bedarfsgerechtes Ausmaß zu beschränken und die Kontrolle über den Konsum wiederzuerlangen. Dazu müssen Betroffene verstehen, welche Kreisläufe ihre Sucht aufrechterhalten und welche Möglichkeiten sie haben, diese zu durchbrechen. Parallel dazu wird daran gearbeitet, die Verhaltensvielfalt wieder aufzunehmen und soziale Kontakte zu reaktivieren oder neu zu knüpfen. Ergänzend können Übungen zum Ausbau sozialer Fertigkeiten, der Selbstsicherheit oder Stressbewältigung eingesetzt werden. Thematisiert wird auch der Umgang mit Geld sowie entstandenen Schulden, mitunter kann eine Schuldnerberatung notwendig sein.