Wann die Jodblockade sinnvoll ist – und wann nicht |
Juliane Brüggen |
02.03.2022 15:00 Uhr |
Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 wurden in Polen, das stark von dem Durchzug der radioaktiven Wolke betroffen war, Jodtabletten an die Bevölkerung und insbesondere an Kinder verteilt. Nachuntersuchungen zeigten, dass es bei den behandelten Personen keinen Anstieg der Schilddrüsenkrebshäufigkeit gab. Der havarierte Reaktor ist heute von einer neuen Schutzhülle umgeben, die das radioaktive Material für bis zu 100 Jahre von der Umwelt isoliert. / Foto: Adobe Stock/Sved Oliver
Der Krieg in der Ukraine macht vielen Menschen Angst – nicht zuletzt fürchten sich viele vor einem nuklearen Notfall. Geschürt wird die Angst zum einen durch die von Präsident Wladimir Putin angeordnete Alarmbereitschaft der russischen Atomstreitkräfte und zum anderen durch die Kampfhandlungen in der Ukraine. Das unter Beschuss stehende Land betreibt an vier Standorten insgesamt 15 Kernreaktoren. Auch der Katastrophen-Reaktor von Tschernobyl befindet sich auf ukrainischem Gebiet, das Sperrgebiet wurde von russischen Soldaten besetzt. Zudem wurden bei russischen Angriffen Lager für radioaktive Abfälle in Kiew und Charkow getroffen.
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) beobachtet die Lage genau und gibt aktuell Entwarnung: »Radiologische Auswirkungen auf Deutschland sind nach dem Stand der verfügbaren Informationen nicht zu befürchten«, heißt es beim BfS. Es sei nicht davon auszugehen, dass radioaktive Stoffe in erhöhtem Maße freigesetzt wurden.
Trotzdem bekommen Apotheken die Unsicherheit der Menschen durch eine erhöhte Nachfrage nach Jodtabletten zu spüren. Denn: Im Notfall kann von außen zugeführtes, nicht-radioaktives Jod die Schilddrüse sättigen und damit verhindern, dass radioaktives Jod (chemisch Iod 131 oder 131I) gespeichert wird (Jodblockade). Das schützt vor Schilddrüsenkrebs. Was viele nicht wissen: Die Einnahme von hochdosiertem Jod birgt Risiken und sollte keinesfalls prophylaktisch oder ohne Anweisungen der Katastrophenschutzbehörden erfolgen. Im Folgenden die wichtigsten Punkte zur Jodblockade:
Update: Auch das Kernkraftwerk Saporischschja wurde nach Medienberichten von russischen Truppen eingenommen. Nach Beschuss ist ein Feuer ausgebrochen, der Brand wurde gelöscht. Erhöhte radioaktive Messwert wurden laut BfS nicht verzeichnet. Das BfS bleibt bei der oben genannten Einschätzung der Situation (Stand: 04.03.2022).
Die zuständigen Behörden sind mit 189,5 Millionen Kaliumiodidtabletten bevorratet. Im Katastrophenfall werden diese in den betroffenen Gebieten an bestimmten Stellen wie Apotheken, Feuerwehrwachen oder Rathäusern an die Bevölkerung ausgegeben. Den Aufruf, die Tabletten abzuholen, erhalten die Bürger rechtzeitig über verschiedene Informationskanäle wie die Medien.
Für Jugendliche ab 13 Jahren und Erwachsene bis 45 Jahre wird zur Jodblockade beispielsweise eine Dosis von 130 mg Kaliumiodid empfohlen, zur einmaligen Einnahme. Das entspricht 100 mg Jod. Zum Vergleich: In Nahrungsergänzungsmitteln oder Arzneimitteln zur Jodsubstitution ist deutlich weniger Jod enthalten, meist sind es zwischen 100 µg und 200 µg (= 0,1 mg und 0,2 mg).
Die Katastrophenschutzbehörden berechnen den richtigen Zeitpunkt für die Einnahme. Erst wenn sie ausdrücklich dazu auffordern, sollten Menschen die hochdosierten Jodtabletten einnehmen. Eine zu frühe oder zu späte Einnahme ist weniger oder gar nicht wirksam.
Erwachsene über 45 Jahre sollten kein hochdosiertes Jod einnehmen. Hintergrund ist, dass bei ihnen das dadurch entstehende Risiko höher ist als der Nutzen. Insbesondere bei älteren Menschen mit funktioneller Autonomie der Schilddrüse kann es zu einer jodinduzierten Hyperthyreose (Schilddrüsenüberfunktion) und lebensgefährlicher Stoffwechselentgleisung kommen, wenn die als sicher geltende Gesamtzufuhrmenge von 500 µg Jod pro Tag überschritten wird. Bis zum Ausbruch einer Schilddrüsenkrebserkrankung vergehen 30–40 Jahre.
Menschen, die an einer Jodüberempfindlichkeit oder einer Schilddrüsenerkrankung leiden, sollten sich vorab bei ihrem Arzt informieren, ob die Einnahme von hochdosiertem Jod im Notfall für sie in Frage kommt.
Besonders wichtig ist die Jodblockade für Kinder und Jugendliche, bei denen die Schilddrüse empfindlich ist, sowie für Schwangere zum Schutz des ungeborenen Kindes.
Schäden durch andere radioaktive Stoffe wie Caesium 137, Strontium 90 oder Plutonium werden durch die Jodtabletten nicht verhindert. Auch diese können schwere Erkrankungen wie Krebs auslösen.
»Aufgrund der Entfernung zur Ukraine ist nicht damit zu rechnen, dass eine Einnahme von Jodtabletten erforderlich werden könnte. Von einer selbständigen Einnahme der Tabletten wird dringend abgeraten. Eine Selbstmedikation birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinerlei Nutzen«, schreibt das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz unter jodblockade.de.
Auch die Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) warnt davor, hochdosierte Jodtabletten selbständig einzunehmen. Es gebe in Deutschland aktuell keine rationale Begründung dafür, da keine Belastung durch radioaktives Jod vorliege. Auch die AMK rechnet nicht damit, dass die Einnahme von Jodtabletten erforderlich werden könnte und nennt als Grund ebenfalls die Entfernung zur Ukraine.
»Apotheker raten von der selbständigen Einnahme von Jodtabletten, um sich vor einer vermeintlichen Belastung mit radioaktivem Jod zu schützen, dringend ab«, verdeutlicht Professor Dr. Martin Schulz, Vorsitzender der AMK. »Eine Selbstmedikation birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, hat aktuell aber keinerlei Nutzen.«
Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz: jodblockade.de
Bundesamt für Strahlenschutz: Einnahme und Wirkung von Jodtabletten
Verbraucherzentrale: Notfallmedizin - Jod - bei radiologischem oder nuklearem Notfall