Warnung vor falschen Heilsversprechen bei Tinnitus |
Tinnitus kann unerträglich werden und Betroffene nach jedem Strohhalm greifen lassen. Doch viele im Internet angebotene Maßnahmen sind wenig zielführend, manche sogar gefährlich. / Foto: Getty Images/vitapix
Manche Patienten beschreiben den »Terror« im Kopf oft als unerträglich und berichten von Angstzuständen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie Depressionen. Von Mitmenschen und selbst von Ärzten nicht zuletzt aufgrund Hilflosigkeit häufig nur unzureichend ernst genommen, greifen sie nach jedem Strohhalm, um den inneren Lärm zu lindern.
»Doch Vorsicht: Nicht zuletzt im Internet wird eine Vielzahl von Maßnahmen angeboten, die nicht nur nicht zielführend, sondern zudem gefährlich sind«, sagt Professor Birgit Mazurek in einem Statement zur Veröffentlichung der aktualisierten S3-Leitlinie »Chronischer Tinnitus« der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC).
Als eine der federführenden Autorinnen dieser Leitlinie warnt Mazurek vor Quacksalberei und falschen Heilsversprechen – egal ob in Form ominöser Kräuter und Tinkturen oder dubioser technischer Verfahren wie App-gestützten Soundtherapien oder Neuromodulationen wie zum Beispiel transkranielle Magnetstimulation.
Derartige Verfahren hätten sich als nicht evident erwiesen. Auch gäbe es keine Hinweise darauf, dass Nahrungsergänzungsmittel oder spezifische Phytotherapeutika eine nachgewiesene Wirksamkeit auf den Tinnitus haben. Derzeit existieren keinerlei Medikamente, die den chronischen Tinnitus ursächlich heilen können, ergänzt Mazurek.
Zu einem Tinnitus (tinnire, lat. = klingeln) kann es unter anderem in Folge infektiöser, (oto)toxischer oder (knall)traumatischer Erkrankungen des Mittel- oder Innenohres beziehungsweise des Hörnervs, so zum Beispiel einer Otosklerose, einer Innenohrschwerhörigkeit durch überlaute Musik oder Silvester-Knaller, Morbus Menière als anfallartigen Drehschwindel oder gutartige Tumore der Hör- und Gleichgewichtsbahnen kommen.
Mit Blick auf die Pathogenese werden Störungen der Schallverarbeitung diskutiert. Die Rede ist von Parallelen zum Phantomschmerz, da auch der chronische Tinnitus als Empfindung eigentlich nicht mehr funktionierender oder geschwächter Hörbahnen in zugehörigen zentralen Hirnregionen registriert wird. In 45 Prozent der Fälle wird laut Angaben der Deutschen Tinnitus-Liga bei der Erstuntersuchung und auch später keine eindeutige Ursache gefunden. Die Rede ist dann von einem »idiopathischen Tinnitus«.
Anders sähe es bei der Behandlung von Begleiterkrankungen wie Schlaflosigkeit, innere Unruhe, Angststörungen, Burn-out und Depressionen aus, die als »Lärm der Seele« wiederum den Lärm im Kopf verstärken können – ein Teufelskreis. Diese Komorbiditäten sollten und müssten daher individuell und gegebenenfalls medikamentös therapiert werden, unterstreicht die Leiterin des Tinnitus-Zentrums der Berliner Charité.
Hier könnten moderne Antidepressiva wie unter anderem Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI) und Anxiolytika zum Einsatz kommen, wobei im Vorfeld mittels fachärztlicher Anamnese und Differentialdiagnose einschließlich gründlicher Hörprüfung stets der Schweregrad des chronischen Tinnitus erfasst werden müsse. Bei einem gleichzeitig bestehenden Hörverlust könne die Versorgung mit Hörgeräten den Tinnitus durch die Teilmaskierung in Folge der besseren Wahrnehmung von Umgebungsgeräuschen positiv beeinflussen.
Die Therapieempfehlungen bei chronischem Tinnitus zielten generell darauf ab, Verbesserungen durch die Veränderung von Denk- und Verhaltensweisen sowie dysfunktionalen Bewertungsmustern zu erreichen, betont Professor Gerhard Hesse, Bad Arolsen, gleichermaßen einer der federführenden Autoren der neuen Leitlinie. Basis jeder Therapie müsse daher das sogenannte Tinnitus-Counselling (counselling = engl.: Beratung), also die Aufklärung über Möglichkeiten sein, die akustischen Belastungen erträglich zu gestalten. Auch verhaltens- und psychotherapeutische Interventionen sowie die Unterstützung durch Selbsthilfegruppen könnten sinnvoll sein. Im Sinne einer sogenannten »kognitiven Desensibilisierung« existierten die Ohrgeräusche zwar noch, würden jedoch weniger wahrgenommen.
Psychosoziale und hier auch seelische und körperliche Belastungen können die Tinnitus-Intensität und -Frequenz begünstigen. Zur Identifikation von Stress-Faktoren sei es daher oftmals sinnvoll, ein Tagebuch zu führen. Muss es darum gehen, den chronischen Tinnitus ins Leben zu integrieren, so könne es hilfreich sein, ihn nicht als Feind, sondern als »inneren Seismographen« und somit inneren Berater im »Wust« des Alltags zu betrachten.