Warum man bei Corona-Zahlen vorsichtig sein muss |
Auch wenn viele Berechnungen nur Modelle und möglicherweise falsch sind , können die Schlussfolgerungen daraus richtig sein. / Foto: Adobe Stock/denisismagilov
Die verfügbaren Zahlen enthielten zu wenige Informationen, erklärt Katharina Schüller, Gründerin des Münchner Unternehmens Stat-Up und Leiterin der Arbeitsgruppe »Statistical Literacy« der Deutschen Statistischen Gesellschaft. »Sie bilden nur einen kleinen Teil der Realität ab, nämlich die schwer Erkrankten, einen Teil der leichter Erkrankten mit Symptomen und einen ganz kleinen Teil von Menschen ohne Krankheitszeichen, die getestet wurden, weil sie Verdachtsfälle waren.«
Ob auch viele andere infiziert sind oder nicht, »das wissen wir nicht und können es auch nur mehr oder weniger begründet erraten«, schreibt Schüller in einem Beitrag für das Hochschulforum Digitalisierung: »Wir wissen, dass jede unserer Modellrechnungen falsch sein muss.« Trotzdem könnten die Schlussfolgerungen daraus richtig sein.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO weist unter anderem auf »Unterschiede bei den Berichtsmethoden, rückwirkende Datenkonsolidierung und Verzögerungen bei der Berichterstattung« hin. Wegen der Inkubationszeit, der Zeit für den Test und der Meldeverzögerungen zeigen in Deutschland zum Beispiel Maßnahmen wie Kontaktverbote oft erst etwa 14 Tage später Folgen bei den Zahlen. Dazu kommt, dass verschiedene Quellen verschiedene Zahlen liefern, wie zum Beispiel das RKI, die Nachrichtenagentur dpa und die Johns Hopkins University.
Es gibt viele Stolperfallen bei den Corona-Daten. Besonders heikel sind Ländervergleiche. »Insbesondere hängen die erfassten Fallzahlen in jedem Land zentral davon ab, wie systematisch und umfangreich dort auf das Virus getestet wird«, erklären die Macher der »Unstatistik des Monats«, einem Angebot mehrerer Statistik-Experten, das auf mögliche Fehler bei der Interpretation von Statistiken hinweist.
Etliche Faktoren beeinflussen Stand und Schweregrad der Infektionen und können sich von Land zu Land immens unterscheiden: Einwohnerzahl, Altersstruktur, spezielle Erkrankungen in der Bevölkerung wie Tuberkulose, das Stadium der Ausbruchswelle, der Wille oder das Vermögen zu testen, die Richtlinien dafür, wer überhaupt getestet wird.
In Altenheimen gestorbene Menschen etwa werden in einigen Ländern nachträglich getestet und fließen in die Statistik ein – in anderen nicht. Da vorwiegend Ältere mit Covid-19 sterben, kann das enorme vermeintliche Unterschiede zur Folge haben.
Die statistische Erfassung der Todesursachen variiere von Land zu Land erheblich, betonen auch die Macher der »Unstatistik«, zu denen Katharina Schüller gehört. Dennoch werden immer wieder Vergleiche von Sterberaten diskutiert. Generell sei es falsch, einfach die Toten ins Verhältnis zu den bekannten Infizierten zu setzen. Werde die Dunkelziffer nicht berücksichtigt, werde die Letalität systematisch überschätzt.
Kniffelig wird es auch bei Aussagen zur Zahl der Genesenen, die hier und da bis auf die letzte Stelle angegeben werden und damit ziemlich exakt aussehen. Doch wo nicht einmal alle Infizierten getestet und erhoben werden, kann natürlich noch viel weniger über die Zahl der Genesenen bekannt sein. Daher sind all diese Angaben immer nur Schätzungen – sehr grobe Schätzungen in vielen Fällen.
Um die Folgen der Coronavirus-Pandemie richtig einschätzen zu können, fordert die Deutsche Stiftung Patientenschutz jetzt zumindest einheitliche Standards bei der Erfassung von Todesfällen. »Drei Monate nach den ersten Infizierten in Deutschland haben wir noch immer keine gemeinsame Linie«, sagte Vorstand Eugen Brysch heute der Nachrichtenagentur dpa. Exakte Zahlen seien aber wichtig, um den Krankheitsverlauf einschätzen zu können.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Bundesländer müssten sich darauf verständigen, dass wenigstens bei den Gestorbenen eine Testung auf Sars-CoV-2 erfolge, forderte Brysch. »Das überfordert auch nicht die Behörden und die Labore.« Es könnten derzeit mehrere Zehntausend Tests in Deutschland durchgeführt werden. »Und hier ist die Sterblichkeitsrate nicht so hoch«, sagte er. Die Zahlen seien hierzulande anders als etwa in den USA.
Er halte es für »nicht angemessen«, ohne klare Fakten als Grundlage schon über Ausstiegsszenarien zu sprechen, sagte Brysch. »Das ist Kaffeesatzleserei.« Gerade mit Blick auf Alten- und Pflegeheime müssten die Todesfälle besonders in den Blick genommen werden. Hintergrund ist, dass die Statistiken etwa der Behörden, aber auch der Johns Hopkins Universität aus den USA teils zeitverzögert erstellt werden und auf unterschiedlichen Quellen basieren. Zudem werden weder überall alle Toten auf eine Covid-19-Erkrankung untersucht noch werden etwa alle Infizierten ohne Symptome erfasst.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.