Was Bewegung dem Gehirn bringt |
Kleine Hanteln, großer Effekt: Krafttraining stärkt Muskeln und dient der Sturzprophylaxe. / © Getty Images/Coolpicture
Kaum etwas wirkt sich so positiv auf den Körper aus wie Sport. Durch Bewegung wird Muskelmasse aufgebaut, eine Reihe von Proteinen und Wachstumsfaktoren freigesetzt, das Herz-Kreislauf-System gestärkt, der Stoffwechsel positiv beeinflusst, es werden Gelenke und Knochen stabilisiert sowie Abwehrkräfte erworben. Dass Muskeltraining aber sowohl unmittelbar auf biochemische Vorgänge im Gehirn einwirkt und längerfristig die Leistung des Denkorgans zu stimulieren vermag, ist in der Medizin eine relativ junge Erkenntnis.
Immer mehr Studien zeigen, dass Bewegung für das Gedächtnis und mentale Fähigkeiten eine bedeutende Rolle spielt. Die Effekte sind nach etwa drei bis sechs Monaten nachweisbar, wenn Studienteilnehmer mindestens zweimal pro Woche für etwa je eine Stunde in der Turnhalle zum Workout gingen, beim Aquajogging aktiv waren oder auf der Tartanbahn ihre Runden drehten. Dann hatten Aufmerksamkeit, Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit genauso wie die Gedächtnisleistung zugenommen. Selbst das Vokabellernen fällt leichter und klappt schneller, wenn es während eines Spazierganges passiert, wissen Hirnforscher. Und noch ein Benefit: Bewegung kann gar den Beginn einer demenziellen Erkrankung hinauszögern und auch deren Verlauf positiv beeinflussen.
Dass Aktivität nicht von heute auf morgen Früchte in Form besserer kognitiver Werte tragen kann, erklärt sich gewissermaßen von selbst. Laut Professorin Dr. Nadja Schott vom Institut für Sport- und Bewegungswissenschaft der Universität Stuttgart deckt sich der Zeitfaktor auch mit der sogenannten Aufwands-Hypothese. »Wenn ich meinen inneren Schweinehund überwunden habe und zum Training gegangen bin, fühle ich mich gut. Das implementiere ich nach einer gewissen Zeit in mein Verhaltensmuster und gehe wieder hin. Gemäß der Theorie des geplanten Verhaltens braucht es etwa ein halbes Jahr, bis wir unser Verhalten dauerhaft umsetzen«, sagt die Professorin für Psychologie und Bewegungswissenschaften, die sich seit Jahren mit der Wechselbeziehung von körperlicher Aktivität und mentalen Fähigkeiten auseinandersetzt, im Gespräch mit PTA-Forum. Förderlich dabei sei freilich, eine Bewegungsform zu finden, die einem wirklich Freude bereitet.
Wie kann man sich die Prozesse auf zellulärer Ebene im Gehirn vorstellen? »Ausgelöst durch die Muskelkraft kommt es im Hirn zu einer Freisetzung von neurotrophen Proteinen wie dem BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor) oder Wachstumsfaktoren wie dem IGF 1 (Insulin-like Growth Factor). Weil das Gehirn ein plastisches Gewebe ist, sorgen Trainingsreize für eine verbesserte Synaptogenese; Nervenzellen werden neu gebildet, miteinander vernetzt, die Neuroplastizität nimmt zu. Die funktionale Konnektivität innerhalb des Gehirns wird verbessert«, erklärt Schott.
Bewegung bringt automatisch Herausforderungen für das Gehirn mit sich. Ausführungen von komplexen Bewegungen, wie die Schrittfolgen beim Tanzen oder auch bei Aktivitäten in der Natur, erfordern erhöhte Konzentration. »Das verstärkt die neuronale Aktivität und wirkt sich positiv auf die oben genannten Wachstumsfaktoren aus. Dadurch lernen die Systeme, und so verbessern sich vor allem bei den Nervenbahnen die Reizschwelle und die Reizfrequenz.«
Stete Trainingsreize lassen jene Region im Hirn wachsen, die zuständig für das Lernen und das Gedächtnis ist, den Hippocampus. »Das ist äußerst günstig – zumal bekannt ist, dass das Gehirnvolumen zwischen dem 50. und 80. Lebensjahr rund 10 Prozent abnimmt und dabei vor allem der Hippocampus und der Frontallappen schrumpfen. Im Alter kognitive Herausforderungen zu suchen, damit das Gehirn in Form bleibt, wirkt also dem Abbau entgegen«, formuliert es die Expertin.
Ursprünglich im Gehirn entdeckt, weiß man heute, dass BDNF bei Kontraktion vom Muskel selbst produziert wird. Damit zählt der Wachstumsfaktor zu der großen Gruppe der Myokine – also von bislang mehreren Hundert entdeckten Botenstoffen, die die Skelettmuskulatur selbst sezerniert und damit als eigenständiges endokrines Organ mit anderen Organen und Geweben, etwa dem Gehirn, der Bauchspeicheldrüse und dem Fettgewebe, kommuniziert. Zu ihnen zählen neben dem BDNF eine ganze Reihe von Zytokinen wie Interleukin-6 (IL-6) sowie IL-4, IL-7 und IL-15, aber auch Hormone wie Irisin, Musclin und Myostatin.
Einige Myokine wie eben BDNF, aber auch Lactat oder Irisin können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und dort für die bekannten positiven Effekte auf die Stimmung, das Stresslevel und die Kognition sorgen. Irisin fördert wiederum die BDNF-Freisetzung im ZNS selbst und Lactat die Gefäßneubildung.
Der weiße Muskelfasertyp – die sogenannte Fast-Twitch-Faser – ermöglicht kräftige, kurze Kontraktionen und hilft so beim Hüpfen, Springen oder Sturz abfangen. Er ermüdet schnell. Die roten Muskelfasern sind dagegen unsere Alltags-Dauer-Muskeln, die den ganzen Tag für uns aktiv sind. Sie sorgen für Haltung und helfen beim Ergreifen eines Gegenstandes. Weil sie sehr gut mit Sauerstoff versorgt sind, sind sie rot. Sie sprechen auf Reize langsamer an, haben eine längere Kontraktionszeit, ermüden aber auch sehr viel langsamer.
Dies gilt es, mit einem angepassten Training zu berücksichtigen. Der Unterschied im Training besteht darin, dass man die weißen Muskelfasern nur mit hohen Lasten aktivieren kann und die roten mit niedrigen Aktivitäten. »Wenn wir walken, trainieren wir die roten Slow-Twitch-Muskelfasern. Damit betreiben wir Kardiotraining. Die weißen Muskelfasern bleiben jedoch unerreicht und bauen sich deshalb ab. Sie sind dann für schnelle Bewegungen im Alter nicht mehr rekrutierbar. Krafttraining fordert die weißen Muskeln«, weiß Sportwissenschaftlerin Schott.
Eine Erkenntnis bezüglich BDNF ist relativ neuer Natur: Der Wachstumsfaktor nimmt direkt Einfluss auf die Muskelfaserzusammensetzung. Dadurch, dass er bei körperlicher Aktivität direkt im Muskel gebildet wird, trägt er maßgeblich zum Wachstum weißer, kräftiger Muskelfasertypen bei – zulasten der roten Fasern, deren Zahl und Querschnitt sich reduziert (siehe Kasten). Es kommt quasi zu einem Faserswitch, die Muskeln werden dauerhaft umprogrammiert. »Das bedeutet: Regelmäßiges Muskeltraining reduziert das Sturzrisiko von älteren Erwachsenen massiv«, führt Schott aus.
Daneben spielt Sport für die Stressregulation eine entscheidende Rolle, weiß Dr. Dr. Stefan Schneider, Professor am Kölner Institut für Bewegungs- und Neurowissenschaft. »Für uns Menschen bedeutet Bewegung immer auch die Kompensation von Stress. Die vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen soll uns ja eigentlich helfen, vor dem Säbelzahntiger zu fliehen oder das Mammut zu erlegen. Das gehört zu Jahrmillionen lang antrainierten Reaktionen des Körpers. Nur erfolgt heute in einer von Bewegungsarmut geprägten Welt keine Kompensation mehr. Sport wirkt dagegen wie ein Ventil, Stress abzubauen.«
Schneider weiß, wovon er spricht. Ist er doch schon seit Jahren eingebunden in die Betreuung von Menschen, die unter extremen Bedingungen leben wie etwa Astronauten auf der Internationalen Raumstation ISS. Seine Untersuchungen konnten zeigen, dass ein regelmäßiges, individualisiertes Sport- und Bewegungsprogramm während einer Weltraumexpedition nicht nur physisch einen Nutzen bringt, sondern den Weltraumforschern vor allem mental hilft, die Langzeitisolation zu bewältigen.
Mittlerweile wissen Neurowissenschaftler, dass zu viel Stress mit einer zunehmenden Aktivierung des präfrontalen Kortex verbunden ist. Also jenes Ortes im Gehirn, wo Pläne geschmiedet, Entscheidungen getroffen, Reize verarbeitet und emotional bewertet werden, also dort, wo exekutive Funktionen gesteuert werden. Schneider: »Umgangssprachlich könnte man sagen: Der Kopf ist voll, wir können nicht mehr Informationen bearbeiten. Unser Gehirn kann nicht sämtliche Teile zur gleichen Zeit intensiv am Laufen haben.« Durch Sport komme es nun zu einer Verschiebung kortikaler Aktivität: Während sie im motorischen Kortex hochgefahren wird, könne der präfrontale Kortex zur Ruhe kommen. »Dieses auch transiente Hypofrontalität genannte Phänomen ist das neurophysiologische Äquivalent zur Beschreibung vieler Sportler, beim Laufen den Kopf richtig freibekommen zu haben«, erklärt der Experte gegenüber PTA-Forum.