Was bringen Mittel zum Abnehmen? |
Verena Schmidt |
19.04.2024 15:00 Uhr |
Inkretinmimetika als Gamechanger: Der Durchbruch in der medikamentösen Adipositastherapie ist geschafft – so scheint es aktuell zumindest. / Foto: Getty Images/kali9
In Deutschland ist mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig, knapp jeder fünfte Mensch ist mit einem Body-Mass-Index (BMI) ≥30 kg/m² sogar adipös. Dass starkes Übergewicht dem Körper schadet, ist hinreichend bekannt: Adipöse Menschen haben im Vergleich zu Normalgewichtigen unter anderem ein erhöhtes Risiko, an Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 sowie bestimmten Krebsarten zu erkranken.
»Bekannt ist, dass Bewegungsmangel und eine hyperkalorische Ernährung für Übergewicht und Adipositas verantwortlich sind«, sagte Theresia Schoppe, Vorstandsmitglied des Verbands der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland, laut einer Pressemeldung anlässlich des Welt-Adipositas-Tags Anfang März. »Das ist jedoch nicht die alleinige Ursache, Adipositas hat häufig eine multifaktorielle Genese.« Tatsächlich zeigen Studien, dass viele Betroffene eine genetische Veranlagung für Adipositas haben – das scheint wohl besonders bei Frauen der Fall zu sein. Eine Fehlfunktion der Hunger- oder Sättigungsregulation im Gehirn könnte demnach für die Gewichtszunahme mitverantwortlich sein.
Experten betonen daher immer wieder, dass Adipositas kein Lifestyle-Problem, sondern vielmehr eine komplexe chronische Stoffwechselerkrankung ist. Lediglich auf die Notwendigkeit von mehr Bewegung und besserer Ernährung hinzuweisen, reicht laut Diabetesberaterin Schoppe nicht aus. »Anstatt Betroffene zu stigmatisieren, sollte Adipositas als komplexe Erkrankung anerkannt und mit entsprechenden gezielten und strukturierten Maßnahmen bekämpft werden, um Folgeerkrankungen zu verhindern«, fordert sie.
Bei der Adipositas-Behandlung geht es in erster Linie darum, das Körpergewicht schrittweise zu verringern und langfristig nicht wieder zuzunehmen. Eine Ernährungsumstellung, Sport und Bewegung bilden die Basis, gegebenenfalls kann auch eine kognitive Verhaltenstherapie dabei helfen, bestimmte Verhaltensmuster, die zum Übergewicht beigetragen haben, zu erkennen und zu verändern. Bei starkem Übergewicht kann auch eine bariatrische Operation in Betracht gezogen werden.
Klar ist, dass der Weg zur langfristigen Gewichtsabnahme kein leichter ist. Die Betroffenen müssen dafür Lebensgewohnheiten ändern, die sich teils über Jahrzehnte verfestigt haben – das fällt vielen auf Dauer enorm schwer, selbst wenn der Wille anfangs stark ist. Und so sind die Effekte von Diäten und Sport bei starkem Übergewicht oft mäßig und halten nur kurz an. Seit jeher hoffen Betroffene und Ärzte daher auf medikamentöse Therapieoptionen – lange Zeit war in diesem Bereich trotz zahlreicher Arzneimittelentwicklungen aber kein durchschlagender Erfolg in Sicht.
Zur dauerhaften Veränderung von Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltensmustern können Übergewichtige auch die Hilfe einer App in Anspruch nehmen. Derzeit hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für Menschen mit Adipositas die beiden Apps »Zanadio« und »Oviva Direkt für Adipositas« zertifiziert und in ihr Verzeichnis für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA-Verzeichnis) aufgenommen. Sie sind also verordnungsfähig, die Krankenkassen übernehmen die Kosten.
Bis jetzt – es scheint aktuell so, als sei der Pharmaindustrie endlich der Durchbruch gelungen. Kein Wunder also, dass es seit einiger Zeit einen regelrechten Hype um die sogenannten Abnehmspritzen gibt. Gemeint sind mit dem Begriff Pens mit dem Wirkstoff Semaglutid, ein GLP-1-Rezeptoragonist, der wie das körpereigene, im Darm produzierte Glucagon-Like-Peptide-1 (GLP-1) wirkt. Dieses Inkretinhormon gibt durch Bindung an seinen Rezeptor den Betazellen in der Bauchspeicheldrüse das Signal, Insulin freizusetzen – dann sinkt der Blutzuckerspiegel. GLP-1 senkt außerdem den Spiegel des Insulingegenspielers Glucagon, verzögert die Magenentleerung, reduziert den Appetit und verbessert die Insulinsensitivität.
Semaglutid ist bereits seit einigen Jahren als Antidiabetikum zur Behandlung von Typ-2-Diabetikern unter dem Handelsnamen Ozempic® zugelassen. Anfang 2022 hat die Firma Novo Nordisk dann in der Europäischen Union eine zusätzliche Zulassung zur reinen Gewichtsabnahme bekommen: Wegovy® soll Übergewichtige zusätzlich zu einer Diät und Bewegung bei Gewichtsverlust und -kontrolle unterstützen. Zugelassen ist Wegovy für adipöse Menschen mit einem BMI ab 30 sowie für Übergewichtige (BMI ≥27) mit mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung.
Die Wirksamkeit von Semaglutid hat alle bisher verfügbaren Medikamente zum Gewichtsverlust in den Schatten gestellt. In Studien verloren Patienten, die begleitend zu Lebensstiländerungen eine Dosis Semaglutid pro Woche erhielten, innerhalb von 68 Wochen etwa 15 Prozent Gewicht. Eine Vergleichsgruppe, die ein Placebo bekam, nahm im gleichen Zeitraum nur gut 2 Prozent ab.
Der Run auf die Semaglutid-Präparate ist weltweit groß. Nachdem Unternehmer Elon Musk 2022 auf Twitter verkündet hatte, dass er mithilfe von Ozempic und Diät 13 kg abgenommen habe, ging Semaglutid viral. Der Hersteller Novo Nordisk kam mit der Produktion nicht mehr nach.
Dazu kommt das Problem des Preisunterschieds: Wegovy gilt in Deutschland als Lifestyle-Arzneimittel, es ist teurer als Ozempic und wird von den Krankenkassen nicht erstattet. Daher wird Ozempic auch weiterhin von vielen Ärzten zum Abnehmen verordnet. In der jüngsten Vergangenheit kam es daher zu Engpässen bei der Versorgung von Typ-2-Diabetikern, die auf ihr Medikament angewiesen sind. Und natürlich gibt es auch einen großen Schwarzmarkt für Ozempic, auch Fälschungen waren im Umlauf.
Neben Semaglutid sind noch einige weitere GLP-1-Rezeptoragonisten auf dem Markt, hauptsächlich zur Therapie des Typ-2-Diabetes. Nur Liraglutid (Victoza®) hat zusätzlich eine separate Zulassung bei Adipositas ohne Diabetes. Allerdings ist der Abnehmeffekt geringer ausgeprägt. Ein weiterer Nachteil: Liraglutid muss einmal täglich subkutan in den Bauch, Oberschenkel oder Oberarm injiziert werden, Semaglutid nur einmal wöchentlich.
Nach Semaglutid gibt es auch schon die nächste, wohl noch bessere Option. Der neueste Wirkstoff im Bunde der Inkretinmimetika ist Tirzepatid (Mounjaro®) mit doppeltem Wirkmechanismus (»Twinkretin«). Es wirkt nicht nur als GLP-1-Agonist, sondern auch wie das Inkretinhormon GIP (Gastrisches Inhibitorisches Polypeptid), das ebenfalls die Freisetzung von Insulin aus der Bauchspeicheldrüse stimuliert. Erst als Antidiabetikum zugelassen, bekam Tirzepatid Ende 2023 eine Indikationserweiterung und darf nun auch als Ergänzung zu einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität zur Gewichtsabnahme und -erhaltung bei adipösen Erwachsenen sowie bei Übergewichtigen (BMI ≥27) mit mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung eingesetzt werden.
Tirzepatid wird einmal wöchentlich subkutan injiziert. Es konnte in mehreren Studien zeigen, dass es eine deutliche Reduktion des Körpergewichts herbeiführen kann. Adipöse Patienten verloren in Studien dank Tirzepatid etwa ein Fünftel ihres Körpergewichts. Experten sehen zudem noch viel mehr Potenzial, Studien laufen etwa zum Einsatz bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes, bei Herzinsuffizienz und bei Adipositas-induzierter obstruktiver Schlafapnoe. Auch zur Therapie der Fettleber könnte das Twinkretin in Zukunft eine Option werden.
Da GLP-1-Rezeptoren an vielen Stellen im Organismus sind, wundere es nicht, dass es sehr häufig Nebenwirkungen im Gastrointestinaltrakt gibt, etwa Übelkeit, Durchfall, Erbrechen und Obstipation, schreibt die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft (DPhG) in einem Statement zu Chancen und Grenzen der Inkretinmimetika. Diese Nebenwirkungen kann man reduzieren, indem man mit einer niedrigen Dosis beginnt und sie langsam erhöht. Mit dem gesteigerten Einsatz bei Adipositas steige auch die klinische Relevanz seltenerer Nebenwirkungen wie Darmverschluss, Gallenerkrankungen und Pankreatitis. Auch ein Zusammenhang mit der Entstehung von Schilddrüsenkarzinomen steht laut DPhG im Raum, doch da die GLP-1-Rezeptoragonisten noch nicht so lange auf dem Markt sind, gibt es noch keine Langzeitdaten. »Zusammengenommen kann festgestellt werden, dass es sich keinesfalls um eine harmlose Arzneistoffgruppe handelt«, so die DPhG.
Den Patienten muss auch klar sein: Die erzielten Effekte sind nicht von Dauer. Nach Absetzen des Medikaments nehmen sie wieder zu. Das Verlangen nach »falscher« Nahrung sei sofort wieder da, ebenso sei die Verlangsamung der Magenpassage wieder aufgehoben. Das bedeute, dass man GLP-1-Rezeptoragonisten im Prinzip ein Leben lang anwenden müsste, so die DPhG. Am wichtigsten sei es daher, Patienten zu erklären, warum zu einer Therapie mit GLP-1-Rezeptoragonisten immer auch Änderungen des Ernährungsverhaltens und körperliche Aktivität gehören. Aber: GLP-1-Agonisten könnten auch einen Anreiz für die Patienten darstellen, eine lange überfällige Anpassung des Lebensstils endlich anzugehen. »So eingesetzt wären sie tatsächlich ein Gamechanger in der Behandlung adipöser Patienten«, lautet das Fazit der DPhG-Experten.
Als medikamentöse Abnehmhilfe ist alternativ auf dem deutschen Markt aktuell im Prinzip nur der Lipasehemmer Orlistat verfügbar (zum Beispiel Orlistat-ratiopharm®, Xenical®). In einer Dosierung von dreimal täglich 60 mg ist der Wirkstoff auch für die Selbstmedikation für Erwachsene ab einem BMI von 28 kg/m2 zugelassen, höhere Dosierungen sind verschreibungspflichtig.
Orlistat wird zusammen mit einer leicht hypokalorischen, fettreduzierten Ernährung eingesetzt. Fettreiches Essen erhöht das Risiko für gastrointestinale Nebenwirkungen wie Durchfälle, Flatulenzen und Unterbauchschmerzen. Da die Anwendung die Aufnahme fettlöslicher Vitamine (A, D, E und K) beeinträchtigen kann, sollten Patienten abends zusätzlich ein Multivitaminpräparat einnehmen. Zudem sind zahlreiche Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln möglich, unter anderem mit Levothyroxin, oralen Antikoagulanzien, Antiepileptika oder oralen Kontrazeptiva.
In den vergangenen Jahren kamen zahlreiche Wirkstoffe als Appetithemmer (Anorektika) auf den Markt – und verschwanden aufgrund schwerer Nebenwirkungen mehr oder weniger schnell wieder. Eine Auswahl:
Mit Tirzepatid ist wohl noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Weitere duale Agonisten, Triple-Agonisten und oral verfügbare GLP-1-Agonisten stehen schon in den Startlöchern und haben teils vielversprechende Studienergebnisse vorzuweisen. Ein Beispiel ist Survodutid, ein weiteres Twinkretin, das wie Tirzepatid zusätzlich gerade in einer Phase-II-Studie bei der metabolischen Fettlebererkrankung MASH (früher nicht alkoholische Steatohepatitis, NASH) getestet wird. In der Pipeline befindet sich zudem der Wirkstoff Pemvidutid, der keinen nennenswerten Einfluss auf den Blutzucker hat. Er soll nicht bei Typ-2-Diabetes, sondern ausschließlich bei Adipositas und MASH angewendet werden.
In klinischen Studien getestet werden gerade auch nicht peptidische GLP-1-Rezeptoragonisten, die oral als Kapsel eingenommen werden. Die sogenannten Gliprone (Orforglipron, Lotiglipron und Danuglipron) konnten in Untersuchungen einen ähnlichen Gewichtsverlust erzielen wie die Abnehmspritzen.
Einen weiteren interessanten Ansatz zur Therapie der Adipositas stellte Privatdozent Dr. Tim Hollstein, Clinician Scientist am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, bei einer Pressekonferenz zum Auftakt des Deutschen Kongresses für Endokrinologie Anfang März vor. Ansatzpunkt sei das sogenannte braune Fettgewebe (brown adipose tissue, BAT), das im Gegensatz zum weißen Fett Energie verbrennt statt zu speichern. Aufgabe des BAT ist es, bei Kälteexposition Wärme zu erzeugen. Darüber hinaus produziert das BAT auch Hormone, sogenannte Batokine, die sowohl den Stoffwechsel als auch Organe wie Herz und Leber positiv beeinflussen.
BAT lässt sich durch regelmäßige leichte Kälteexposition trainieren – Studien zufolge reichen dazu milde 16 bis 19 °C für mehrere Stunden am Tag. Auch das in Chilischoten enthaltene Capsaicin soll braunes Fett aktivieren, die Effekte sind Hollstein zufolge allerdings marginal. Daher werden aktuell auch Ansätze erforscht, das BAT mit Medikamenten anzukurbeln. Ersten Untersuchungen zufolge kann der β3-Rezeptoragonist Mirabegron, der bei überaktiver Blase eingesetzt wird, gezielt BAT aktivieren. Doch die dafür notwendigen Dosen sind wohl so hoch, dass sie den Herzschlag und Blutdruck erhöhen. Neueste Studien hätten auch den β2-Agonisten Salbutamol als BAT-Aktivator identifiziert, aber auch hier seien hohe Dosierungen und damit einhergehende kardiale Nebenwirkungen das Problem, so Hollstein.
Die Forschung sei daher gefragt, spezifischere Wirkstoffe zu finden, um BAT gezielt zu stimulieren. Hollstein zufolge könnten diese zukünftig auch als Kombinationspartner für Inkretinmimetika taugen. Denn Letztere haben den Ansatz, dass übergewichtige Menschen weniger Energie aufnehmen, BAT-Aktivatoren dagegen erhöhten den Energieverbrauch und könnten somit einen additiven Effekt haben.
Formuladiäten – in der Regel sind damit industriell hergestellte Shakes oder Pulver zum Anrühren gemeint (zum Beispiel OptiFast®, Almased®, Slimfast®) – können den Einstieg in das Projekt »Gewichtsabnahme« erleichtern und den Weg in eine schrittweise Ernährungsumstellung ebnen. Die wissenschaftliche Datenlage ist gut, auch bei Diabetikern, die abnehmen möchten. Die European Association of the Study of Diabetes (EASD) etwa empfiehlt für Diabetiker ein Mahlzeitenersatzkonzept (dreimal pro Tag ein Shake mit insgesamt maximal 840 Kilokalorien) als beste Strategie für die Gewichtsreduktion. Die Ernährung kann mithilfe einer Formuladiät auch schrittweise umgestellt werden, indem einzelne Mahlzeiten durch einen Diätshake ersetzt werden.
Empfohlen werden Formuladiäten für Personen mit Adipositas (BMI > 30 kg/m2) als Teil eines langfristigen Abnehmprogramms. Die Anwender sollten sich maximal zwölf Wochen ausschließlich mit Formuladiäten ernähren, dann sollte die Umstellung auf eine Ernährungsform erfolgen, die langfristig durchgehalten werden kann.
Ein großer Vorteil ist, dass die Betroffenen zu Beginn meist rasch an Gewicht verlieren. Das motiviert, dranzubleiben. Das Konzept ist außerdem einfach und schnell umzusetzen, eine spezielle Auswahl von Lebensmitteln oder Kalorienzählen entfällt. Der eintönige Geschmack und die meist flüssige Konsistenz der Produkte können allerdings auf Dauer das Durchhalten erschweren. Der geringe Ballaststoffgehalt von Formuladiäten kann zudem eine Obstipation begünstigen. Erfolgt nach der Formuladiät keine Ernährungsumstellung, besteht die Gefahr eines Jojo-Effekts.