Was bringt Melatonin bei Schlafstörungen? |
Der Tag-Nacht-Rhythmus lässt sich medikamentös beeinflussen: Das Hormon Melatonin signalisiert dem Körper, dass er zur Ruhe kommen sollte. / Foto: Adobe Stock/
Schlafstörungen sind für viele Menschen ein Thema. Stress, Sorgen und Ängste, aber auch Umstände wie Schichtarbeit können einer erholsamen Nachtruhe im Wege stehen. Auch ältere Menschen sind häufiger von Insomnien geplagt. Eine ideale medikamentöse Lösung vor allem auf lange Sicht gibt es nicht. Den Weg zum Arzt scheuen viele Betroffene. Schnell und barrierefrei verfügbar sind Nahrungsergänzungsmittel (NEM) mit Melatonin. Sie versprechen, auf natürliche Weise den Schlaf zu verbessern.
Melatonin ist ein körpereigenes Hormon, dass in der Zirbeldrüse aus Serotonin gebildet wird. Die Synthese ist vom Tageslicht abhängig. Ist es draußen hell, ist sie gehemmt, Dunkelheit kurbelt die Produktion indes an. Beim Menschen signalisiert Melatonin, dass es Nacht wird und sich der Körper auf die nächtliche Ruhephase vorbereiten sollte. Melatonin wird daher oft als »Schlafhormon« bezeichnet. Die Substanz steuert jedoch nicht nur den Schlaf-Wach-Rhythmus, sondern hat auch noch weitere Funktionen. So sind unter anderem antioxidative and antiinflammatorische Eigenschaften bekannt und ein Einfluss auf das Immunsystem.
In Arzneimitteln unterliegt Melatonin der Verschreibungspflicht. Bereits seit 2007 sind Mittel für Menschen ab 55 Jahren zur kurzfristigen Behandlung der primären Insomnie zugelassen (wie Circadin 2 mg Retardtabletten). Im Alter lässt die natürliche Melatoninproduktion nach. Die retardierten Tabletten setzen Melatonin langsam über einige Stunden hinweg frei und ahmen dadurch die natürliche Produktion im Körper nach. Wichtig ist die korrekte Einnahme. Es ist eine Tablette täglich ein bis zwei Stunden vor dem Zubettgehen und nach der letzten Mahlzeit einzunehmen. Die Anwendung ist für maximal 13 Wochen zugelassen, nicht jedoch langfristig oder gar dauerhaft.
Für jüngere Erwachsene mit Insomnien sind die Tabletten derzeit nicht zugelassen. Auch die Autoren der S3-Leitlinie »Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen - Insomnie bei Erwachsenen« aus 2017 empfahlen die Substanz wegen einer für sie noch nicht ausreichend nachgewiesenen Wirksamkeit nicht generell zur Behandlung von Insomnien. Sie begründeten das damit, dass die vorliegenden Metaanalysen kein einheitliches Bild hinsichtlich der Wirksamkeit liefern würden.
Es gibt Hinweise, dass Melatonin die Einschlaflatenz bei Jetlag und Schichtarbeit reduzieren könnte. Auch bei der REM-Schlaf-Verhaltensstörung kann es helfen. Die Erkrankung betrifft vor allem ältere Erwachsene und führt dazu, dass während der REM-Schlaf-Phase ausschlagende Bewegungen oder auch Schreie auftreten. Ärzte setzen Melatonin hier trotz begrenzter Studienergebnisse oft Off-Label ein.
Eine gute Evidenz gibt es für Melatonin bei Kindern mit bestimmten Grunderkrankungen. Seit dem 15. Januar 2019 ist in Deutschland Slenyto zur Behandlung von Schlafstörungen bei Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und dem Smith-Magenis-Syndrom für Kinder ab zwei Jahren und Jugendliche bis 18 Jahren verfügbar. Slenyto ist indiziert, wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen den Schlaf nicht ausreichend verbessern. Das Arzneimittel enthält 1 oder 5 mg Melatonin in retardierter Form. Die Tabletten dürfen nicht gekaut oder zerbrochen werden. Wenn das Kind Probleme hat, sie als Ganzes zu schlucken, können Eltern sie zum Beispiel mit Joghurt vermischen.
Die Anwendung von Melatonin ergibt in diesen Indikationen Sinn, da bei neurologischen Erkrankungen wie ASS die Freisetzung des Hormons verändert sein kann. In einem Review aus 2014 kamen die Autoren zu dem Schluss, dass gemäß den von ihnen untersuchten Studien die Gabe von exogenem Melatonin bei abnormalen Schlafparametern bei ASS als evidenzbasiert zu betrachten sei. Die beobachteten Nebenwirkungen seien minimal bis gar nicht vorhanden gewesen.
Hinweise gibt es auch für die Wirksamkeit bei Schlafstörungen im Zusammenhang mit anderen neurologischen Erkrankungen wie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Auch eine langfristige Einnahme scheint hier möglich zu sein. So kam eine Studie aus den Niederlanden 2009 zu dem Ergebnis, dass Melatonin eine wirksame Therapie auch für die Behandlung von chronischer Schlaflosigkeit bei Kindern mit ADHS sei und keine Sicherheitsbedenken hinsichtlich schwerwiegender unerwünschter Ereignisse oder behandlungsbedingter Begleiterkrankungen beständen. Zu beachten ist, dass sich diese Studienergebnisse nicht ohne Weiteres auf gesunde Kinder übertragen lassen.
Während die zugelassenen Arzneimittel für bestimmte Patientengruppen indiziert sind, sprechen NEM zur exogenen Melatonin-Supplementierung eine breite Masse an Menschen an. Die Hersteller brauchen anders als pharmazeutische Unternehmer keine klinischen Studien vorzuweisen, um die Wirksamkeit ihrer Produkte zu belegen. Sie stützen sich auf die von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) zugelassenen Health Claims. Diese sind im Anhang der Verordnung (EU) Nr. 432/2012 der Kommission (sogenannte Artikel 13-Liste) zu finden. Demnach darf die Aussage »Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei« für Lebensmittel verwendet werden, die mindestens 0,5 mg Melatonin je angegebene Portion enthalten. Die Verbraucher sind darüber aufzuklären, dass mindestens 0,5 mg Melatonin für eine positive Wirkung am ersten Reisetag kurz vor dem Schlafengehen sowie an den ersten Tagen nach Ankunft am Zielort einzunehmen sind.
Der zweite zugelassene Health Claim: »Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen«. Die Angabe darf für Lebensmittel verwendet werden, die 1 mg Melatonin je angegebene Portion enthalten. Die positive Wirkung soll sich einstellen, wenn kurz vor dem Schlafengehen 1 mg Melatonin aufgenommen wird.
Der empfohlene Einnahmezeitpunkt unterscheidet sich bei NEM und Arzneimitteln. Das liegt daran, dass im Lebensmittel Melatonin in nicht retardierter Form enthalten ist. Der Wirkstoff wird direkt freigesetzt und dann auch schnell wieder abgebaut, da die Halbwertszeit nur etwa 40 Minuten beträgt.
Die Zusammensetzung und Herstellungsprozesse sind bei NEM weniger reguliert als bei Arzneimitteln. Das kann sich auf die Qualität der Produkte auswirken. So stellten kanadische Wissenschaftler 2017 fest, dass der tatsächliche Melatoningehalt bei getesteten Präparaten um bis zu 478 Prozent höher sein konnte als auf dem Etikett angegeben. Die Unterschiede von Charge zu Charge konnten stark schwanken. Darüber hinaus wurde Serotonin, eine Ausgangssubstanz von Melatonin, in acht der NEM in Konzentrationen von 1 bis 75 μg gefunden.
Auch bei den Dosisempfehlungen bewegen sich einige NEM in einer Grauzone. Die Hersteller nennen zwar Tageshöchstdosen, erklären aber mitunter auch, dass Anwender ihre ideale Dosis selbst finden müssten. Das kann von Schlaflosigkeit geplagte Menschen dazu verführen, die Tageshöchstdosis zu überschreiten. Basierend auf der klinischen Datenlage sind nur Tagesdosen bis maximal 5 mg empfehlenswert.
Umfrageergebnisse vom National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) in den USA aus dem Zeitraum 1999 bis 2018 zeigen, dass immer mehr Menschen Dosen auch über 5 mg/Tag Melatonin zu sich nehmen. Besonders bedenklich sei dies vor dem Hintergrund, dass der tatsächliche Melatoningehalt in den Produkten um einiges höher sein könne als deklariert.
Auch die Beobachtung, dass zunehmend Eltern zu NEM mit Melatonin greifen, wenn der Nachwuchs nicht gut ein- oder durchschläft, kann nachdenklich stimmen. Kinderfreundliche Darreichungsformen wie Gummis mit fruchtigem Geschmack suggerieren, dass die Mittel (auch) für Kinder geeignet sind. Es handelt sich dabei aber nicht um eine harmlose Süßigkeit. In den USA verzeichnete das National Poison Data System (NPDS) zwischen 2012 und 2021 insgesamt 260.435 Meldungen im Zusammenhang mit einer kindlichen Melatonin-Einnahme. Es traten mit zunehmender Häufigkeit Krankenhauseinweisungen und schwerwiegende Gesundheitsfolgen auf, betroffen waren vor allem Kinder im Alter von unter fünf Jahren. Fünf Kinder mussten mechanisch beatmet werden und zwei starben sogar.
Verglichen mit klassischen Schlafmitteln wie Benzodiazepinen, Antidepressiva, Antihistaminika und Anxiolytika, ist Melatonin – eine korrekte Anwendung vorausgesetzt – zwar relativ nebenwirkungsarm. Völlig frei von Risiken und Nebenwirkungen ist aber auch die endogene Substanz nicht. Das Apothekenteam kann auf unerwünschte Begleiterscheinungen wie Schwindel, Somnolenz (Schläfrigkeit), Alpträume, Reizbarkeit, Nervosität, Rastlosigkeit, Angstzustände, Migräne, Bluthochdruck, Magen-Darm-Beschwerden, Blutbildveränderungen, Antriebslosigkeit oder psychomotorische Hyperaktivität hinweisen.
Langzeitwirkungen bei dauerhafter Einnahme sind noch nicht ausreichend erforscht. Weiterhin sind mögliche Interaktionen zu bedenken. Melatonin wird zum größten Teil in der Leber über die CYP1A-Enzyme metabolisiert. Wechselwirkungen können unter anderem mit bestimmten Antiepileptika (wie Carbamazepin), Antidepressiva (wie Fluvoxamin) oder auch dem H2-Rezeptor-Antagonisten Cimitidin auftreten.
Anstelle Schlafstörungen mit NEM zu kaschieren, sind viele Betroffene besser beraten, das Problem an der Wurzel zu packen und die Ursachen anzugehen. Schlafmediziner bevorzugen nicht-medikamentöse Ansätze, zu denen Entspannungstechniken und eine gute Schlafhygiene zählen. Konsequent durchgeführt, helfen die Methoden auch den meisten Menschen, wieder entspannter ein- und durchzuschlafen.