Was das Impfen psychologisch mit uns macht |
Sieht man jemand anderen, der schon das hat, was man selbst dringend bräuchte und möchte, entsteht Experten zufolge ein gemischtes Gefühl aus Angst, Wut und Traurigkeit, die wir Neid nennen. / Foto: Getty Images/ceciangiocchi
Philosophen, Ethiker und Kirchenmänner haben sich schon von je her mit dem Phänomen Neid auseinandergesetzt. Meist wurde er als »Trauer über das Gut des anderen« definiert, es zur Todsünde erklärt oder vor »gemeinschaftsschädigender Wirkung« gewarnt. Sie entdeckten neben der böswilligen Variante aber auch konstruktive Züge, zum Beispiel einen Ehrgeizschub, um das zu erreichen, was der andere schon hat. Heute sind sich viele Forscher einig: Der Vergleich mit anderen gehört zur menschlichen Evolution. In der Bibel beginnt es mit Kain und Abel – und schon das ging nicht gut aus.
Doch ist das, was wir im Zusammenhang mit der Covid-19-Imfpung erleben und fühlen, so etwas wie Impfneid? »Ich würde das nicht so sehr als klassischen Neid bezeichnen«, sagt Isabella Heuser, Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Es sei mehr ein Gefühl von Zurücksetzung. »Dahinter steckt die Angst, dass man zu kurz kommt und an Covid erkrankt, auch schwer.« Diese Angst werde noch befeuert, wenn ein Impfstoff rationiert werde – oder auch durch neue Virusvarianten.
Neid sei in dieser Situation vollkommen verständlich und sollte auch nicht tabuisiert werden, sagt dagegen der Psychoanalytiker Eckehard Pioch, Mitherausgeber des Buchs »Neid. Zwischen Sehnsucht und Zerstörung« im Berliner Inforadio. »Ich brauche etwas dringend und habe es nicht. Ich sehe aber jemand anderen, der es bereits hat. Dann entsteht dieses Gefühl, diese Mischung aus Angst, Wut und Traurigkeit, die wir Neid nennen.«
Für die Psychologin Heuser ist die hochemotionale Gemengelage eine Folge von Verfügbarkeit, wenn ein lebenswichtiges Gut wie Impfstoff knapp ist. »Da kommt der egozentrische Drang in jedem hoch: Ich will das aber auch.«
Charité-Ärztin Heuser kennt auch das Misstrauen, ob allen Geimpften ihre Immunisierung auch zusteht. Sie selbst habe erlebt, dass zwei Menschen, die weder vom Alter noch von ihrer Gesundheit her berechtigt gewesen seien, eine Impf-Bescheinigung von ihrem Arzt bekommen hätten. »Ich finde das moralisch verwerflich, auch von dem Arzt«, urteilt sie. »Die beiden haben das triumphierend erzählt. Das ist dann noch ein Stück widerlicher.«
Gibt es auch das Gegenteil? Impfscham, also die Sorge berechtigter Menschen über ihre Piks zu reden? »Muss man ja nicht«, sagt Heuser. »Aber wenn, würde ich jedem Berechtigten raten, eine Erklärung dazuzusagen.« Niemand müsse dabei jedoch in Einzelheiten gehen und zum Beispiel eine chronische Krankheit offenbaren. »Die Reaktionen werden ja deshalb gefürchtet, weil man unter dem Verdacht steht, dass man sich unberechtigterweise vorgedrängelt hat.« In einer Situation, in der es ohnehin genug gesellschaftliche Konflikte gebe, sei es durchaus sinnvoll, Spannung herauszunehmen.
Doch der Druck wächst, vor allem mitten in der Debatte, welche Freiheiten Geimpfte zurückbekommen könnten. »Dass ihnen Freiheiten, die ihnen zustehen, wieder zurückgegeben werden, das finde ich richtig«, sagt Heuser spontan. Aber genau das könne natürlich den Drang nach der Impfung noch immens vergrößern. Und damit auch die Emotionalität bei diesem Thema.
Auf den Ethikrat ist die Psychologin bei Freiheitsfragen weniger gut zu sprechen. »Er entwickelt meiner Meinung nach keine wirklich pragmatischen Lösungen.« Sie finde es gut, wenn sich ein Land auf eine Priorisierung verständige – welche auch immer. »Dann muss man sie aber auch mit allen Folgen vertreten. Auch wenn es dabei Enttäuschungen bei den Teilen der Bevölkerung gibt, die noch nicht mit der Impfung dran sind.«
Psychoanalytiker Pioch sieht die Bundesbürger nicht hilflos ihren Emotionen ausgeliefert. Gut sei es, konstruktiv auf Neidgefühle zu reagieren, rät er im Inforadio. Das beginne damit, sie sich einzugestehen. Beim Warten auf die Impfung helfe es, sich bewusst zu machen, dass es eine Reihenfolge nach Bedürftigkeit gebe. Das könne trösten. Denn es sei auch etwas zutiefst Humanes, sich zuerst um die Schwachen zu kümmern.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.