Was die Diagnose sichert |
Isabel Weinert |
27.09.2024 15:00 Uhr |
Das Vibrationsempfinden mit einem Messfilament testen, gibt einen guten Hinweis auf eine Polyneuropathie. / Foto: Getty Images/Halfpoint Images
Polyneuropathien (PNP) sind eine Volkskrankheit. Mit zunehmend älterer Gesellschaft werden auch die Zahlen der daran Erkrankten steigen. Denn ein Stückweit ist eine Polyneuropathie auch ein Zeichen des Alterns. Der Leitlinienautor Professor Dr. Dieter Heuß, erklärte dazu in einem Springer Medizin Podcast, dass ein junger Mensch etwa 12.000 Nervenfasern pro mm2 Nervenquerschnitt besitzt, der Mensch allerdings pro Lebensjahr 60 bis 80 Nervenfasern pro mm2 Nervenquerschnitt verliert. Damit bleiben zwischen dem 60. Und 70. Lebensjahr noch etwa 8000 Nervenfasern. Kommen dann noch additiv Kleinigkeiten aus dem Lebensverlauf hinzu, wie etwa der mäßige Genuss von Alkohol, dann bleiben in diesem Alter noch 6000 Nervenfasern.
Diese normalen physiologischen und lebensbedingten Verluste reichen nach Aussage des Experten bereits aus, um einen großen Teil der Polyneuropathien erklären zu können. Dazu kommen die durch Diabetes bedingten Polyneuropathien sowie diejenigen, die ein Alkoholabusus verursacht. Diese Polyneuropathien zeigen sich in der Regel in Symptomen, die leicht auf die Ursache rückschließen lassen: symmetrische sensible Symptome, beginnend in den Füßen, möglicherweise irgendwann auch an den Händen auftretend.
Weniger bekannt ist, dass die Nervenschäden auch das autonome Nervensystem betreffen können, was sich deutlich diffuser zeigt und mitunter eine Ärzte-Odyssee mit sich bringt, bis die Diagnose steht. Im Podcast beschreibt Neurologe Heuß den Fall eines Patienten mit einer Dyspepsie, die zunächst zu gastroenterologischen Untersuchungen veranlassen dürfte. Denken sollte man jedoch bei entsprechenden Risikofaktoren wie Diabetes, Alkoholabusus oder Alter auch an eine neuropathische Genese. Mithilfe spezieller Untersuchungen kann sich dann herausstellen, dass die gesundheitlichen Probleme von einer neuropathisch bedingten Motilitätsstörung des Magen-Darm-Traktes herrühren.
Neuropathisch bedingte autonome Störungen wirken sich mitunter auch auf die Haut aus. Sie ist nicht mehr gut durchblutet, sondern trocken oder schuppig. Oder – im Gegenteil – die Füße zeigen sich gerötet, weil das sympathische System von dem autonomen Schaden betroffen ist. Auch schlecht wachsende Nägel können auf eine autonome Neuropathie hindeuten.
Letztlich kann sich diese Form der Neuropathie an allen Organsystemen zeigen, selbst das Herz bleibt davor nicht verschont. Hier trifft es vor allem die sogenannte Herzfrequenzvariabilität (HV), die ein Maß für die Anpassungsfähigkeit des Herzens an wechselnde Beanspruchung darstellt. Je geringer die HV, desto größer die Gefahr für einen plötzlichen Herztod.
Neben den bereits genannten Verursachern einer PNP wie Alter, Diabetes und Alkohol im Übermaß spielt besonders auch ein Vitamin B12-Mangel eine Rolle. Dabei betont Heuß, dass auch ein niedrig-normaler Spiegel bedeuten kann, dass metabolisch in den Zellen ein B12-Mangel herrscht. Um das herauszufinden müsse man zwingend den Holotranscobolamin-Wert im Labor mitbestimmen. Er ist der früheste Marker eines B12-Mangels.
Eine wesentliche Rolle in der Genese von PNP spielen auch Medikamente. Hier kommt PTA die Aufgabe zu, in den Beipackzetteln zu studieren, ob ein Arzneimittel entsprechende Nebenwirkungen haben kann, wenn ein Patient Symptome einer PNP schildert. Um eine solche Medikamenten-induzierte PNP nicht zu übersehen, sollten auch Ärzte immer erfragen, welche Medikamente – und womöglich auch Nahrungsergänzungsmittel – ein Patient einnimmt. Nur so lassen sich mögliche Ursachen auf diesem Gebiet ausfindig machen.
Anders als die zuvor beschriebenen PNP zeigen sich die immunvermittelten Formen, denen die Leitlinie ein eigenes Kapitel widmet, weil sich diese Neuropathien im Gegensatz zu den klassischen in aller Regel ganz konkret und oft erfolgreich therapieren lassen. Ein medizinischer Notfall unter den autoimmunbedingten Neuropathien ist das Guillain-Barré-Syndrom, das sich akut entwickelt, oft aus einem Magen-Darm-Infekt heraus, und bei dem das Immunsystem fälschlicherweise Myelinscheiden und Axone der Nerven attackiert.
Das Geschehen ist dramatisch. Symptome wie eine Muskelschwäche beginnen in den Beinen, steigen auf und können schlimmstenfalls zum Ausfall der Atemmuskulatur führen. Eine sofortige Krankenhauseinweisung ist unausweichlich. Auch vaskulitische Neuropathien äußern sich grundlegend anders als die klassischen Formen. Die Symptome zeigen sich asymmetrisch, zum Beispiel mit Gefühlsstörungen am linken Fuß und an der rechten Hand. Zugrunde liegt vaskulitischen Neuropathien eine Entzündung der Blutgefäße.
Bei klassischen Neuropathien versucht man die Grunderkrankung zu verbessern, falls vorhanden, also etwa die diabetische Stoffwechsellage, um ein Fortschreiten der Erkrankung dadurch eventuell zu verlangsamen. Bei altersbedingten Formen lässt sich nur bedingt gegensteuern. Deshalb ist es auch nicht in jedem Fall sinnvoll, die Diagnostik auszudehnen. Wenn der Fall klar ist, dann bringt das dem Patienten keinen Zusatznutzen. Den Patienten kann man Ängste nehmen, indem man sie darüber informiert, dass die Erkrankung nur langsam fortschreitet oder auch stagnieren kann und die Prognose grundsätzlich gut ist.
Eine Ausdehnung der Diagnostik bedeutet etwa, dass der Neurologe eine Neurografie vornimmt. Differenzialdiagnostik kann auch die Untersuchung des Liquors beinhalten sowie eine Biopsie von neuropathisch veränderter Haut. Doch diese aufwendigen Maßnahmen sollten tatsächlich nur den Fällen vorbehalten bleiben, in denen die klinischen Symptome der PNP dem meistens vorkommenden Muster aus Symmetrie und sensiblen Symptomen nicht entsprechen. Genetische Untersuchungen bringen laut Heuß einen Mehrwert, wenn etwa der Verdacht auf Morbus Fabri besteht, eine angeborene Stoffwechselstörung, oder auf eine Transthyretin-Amyloidose, die ebenfalls erblich sein kann.