Was ist das Adrenogenitale Syndrom? |
Das Adrenogenitale Syndrom ist eine von 19 Erkrankungen, auf die Säuglinge beim Neugeborenenscreening getestet werden. / Foto: Getty Images/Petri Oeschger
»Früher sind nur die schweren Fälle mit adrenogenitalem Syndrom bei der Geburt aufgefallen. Das waren Mädchen mit einer penisartigen Klitoris. Sie verstarben kurz nach der Geburt, ebenso die Jungen. Nur hier gab es keine äußeren Anzeichen. Ihr Tod war unerklärbar«, sagt Professor Dr. Nicole Reisch, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE), gegenüber PTA-Forum.
Mit der Zeit enträtselten Ärzte und Forscher die Erkrankung mehr und mehr. Genau genommen handelt es sich beim adrenogenitalen Syndrom (AGS) um eine Gruppe seltener angeborener Stoffwechselerkrankungen, bei denen die Synthese der Steroidhormone in der Nebennierenrinde gestört ist. Jeder 50. bis 60. Einwohner in Deutschland trägt die Erbanlage und kann sie an seine Kinder weitergeben. Da die Vererbung autosomal-rezessiv erfolgt, kommt es nur zur Erkrankung, wenn das Kind die betroffenen Gene sowohl von der Mutter als auch dem Vater erhält.
Je nach dem genauen genetischen Defekt trete die Erkrankung in unterschiedlichen Schweregraden auf, wie Reisch erklärt: Bei mehr als 95 Prozent der Patienten verursachen genetische Defekte am Locus des Gens CYP21A2 einen Mangel an 21-Hydroxylase. Dieses Enzym ist für die Bildung von lebenswichtigem Cortisol in der Nebenniere verantwortlich. Mehr als 200 Mutationen für diese Form des AGS sind inzwischen beschrieben, wobei die zehn relevantesten Mutationen 80 Prozent der Fälle ausmachen.
Mediziner unterteilen das AGS hauptsächlich aufgrund des Schweregrades des Enzymmangels an 21-Hydroxylase in eine klassische und eine nicht klassische Form. Bei der klassischen, schweren Form arbeitet das Enzym nicht oder fast gar nicht. Zusätzlich liegt bei der schweren Form, die etwa eines von 10.000 bis 15.000 Babys betrifft, ein Mangel des Hormons Aldosteron vor, welches den Salz- und Wasserhaushalt steuert. Dann verliert der Körper viel Salz. Wird der Säugling vom mütterlichen Kreislauf getrennt, sinkt der Cortisolspiegel, unbehandelt kann das für das Neugeborene tödlich enden. Säuglinge mit einer klassischen AGS-Form, aber ohne Salzverlust, können überleben.
Bei der nicht klassischen Form, dem late-onset AGS, behält das Enzym je nach Mutation eine Restaktivität. Der Körper bildet dadurch meist ausreichend lebensnotwendiges Cortisol. Diese mildere Form ist viel häufiger als die schwere. Genaue Zahlen, wie viele Menschen unter einem late-onset AGS leiden, gibt es aber nicht. Für Mädchen und Frauen gibt Reisch grob jede Zweihundertste bis Tausendste an.
Da die schwere Form bereits in den ersten Lebenswochen des Neugeborenen tödlich verlaufen kann, muss sie schnell erkannt und behandelt werden. Seit 2005 erfolgt der Nachweis dieser Erkrankung beim Neugeborenen-Screening: Liegt die Vorstufe des Cortisols, das 17-OH-Progesteron (17OHP), in zu hoher Konzentration im Blut vor, schließen die Ärzte auf die schwere Form des AGS. Das Neugeborene erhält nach einer positiven Folgediagnostik nun lebenslang eine Ersatztherapie mit synthetischem Cortisol.
Reisch erläutert: »Die Hormonersatztherapie ist anspruchsvoll, sowohl Über- als auch Untertherapie haben erhebliche Auswirkungen auf Wachstum und Entwicklung bei Kindern sowie Fruchtbarkeit, Stoffwechsel und Herz-Kreislauf-Gesundheit bei Erwachsenen. Besonders herausfordernd ist, dass die Therapie in Situationen eines erhöhten Bedarfs wie Krankheit und Fieber schnell und richtig angepasst werden muss, andernfalls drohen lebensgefährliche Nebennierenkrisen.« Entscheidend sei die konsequente Therapie in spezialisierten Zentren. Mit ihrer Hilfe ließe sich für die Betroffenen ein hohes Alter bei guter Lebensqualität erreichen. Ergeben Untersuchungen zudem, dass zu wenig Aldosteron (ebenfalls aufgrund des 21-Hydroxylase-Mangels) vorliegt, muss auch dieser Mangel durch ein synthetisches Analogon behoben werden.
Das mildere late-onset AGS fällt meist erst in der Pubertät und dann bei Mädchen auf – aufgrund von Symptomen wie unregelmäßiger oder ausbleibender Monatsblutung, verstärkter Akne, Damenbart, Behaarung an Brust und Bauch (Hirsutismus). Bei dieser Form besteht eine Restenzymaktiviät von circa 20 bis 50 Prozent. Die Bildung von Aldosteron ist nicht und die Cortisolproduktion nicht oder nur leicht beeinträchtigt. Jedoch bildet die Nebenniere etwas mehr Androgene wie Testosteron. Die Mädchen haben zu viel männliche Hormone im Körper.
Die Symptome des late-onset AGS sind recht unspezifisch. Ähnliche Beschwerden werden häufig auch von einem polyzystischen Ovarialsyndrom (PCOS) ausgelöst. »Betroffene sollten die Ursache unbedingt ärztlich abklären lassen«, mahnt Reisch. Denn: Zwei Drittel der Betroffenen eines late-onset AGS sind Genträger einer schweren Mutation und können damit die Anlage für ein klassisches AGS weitergeben. Das Risiko für ein klassisches AGS erhöht sich für ihre Nachkommen von 1:10.000 bis 15.000 Fälle auf 1:400 Erkrankungen. Daher seien eine genetische Beratung und auch die genetische Untersuchung des Partners gerade bei Kinderwunsch entscheidend.
Für die Diagnostik des nicht klassischen AGS ist ein ausführliches Hormonprofil wichtig. Bei konkretem Verdacht folgt ein Hormonstimulationstest. Er dient auch dazu, einen eventuell doch vorhandenen Mangel an Cortisol auszuschließen. Eine unregelmäßige Regelblutung und eine ebenfalls auf das nicht klassische AGS zurückzuführende Unfruchtbarkeit lassen sich meist gut mit Glucocorticoiden behandeln. Bei Hirsutismus können orale Kontrazeptiva oder hormonhaltige Hautcremes helfen. Letztere werden im Gesicht eingesetzt, um dort das Haarwachstum zu hemmen. Ideal ist laut Reisch eine Kombination mit kosmetischen Behandlungen. Die Akne sollte ein Hautarzt behandeln.
Wie Reisch erläutert, seien Männer zwar genauso häufig vom late-onset AGS betroffen. Meist haben sie jedoch keine größeren Beschwerden, weil bei ihnen mit Beginn der Pubertät die Hoden die männlichen Hormone bilden. »Der Anteil an männlichen Hormonen, der dann noch aus den Nebennieren kommt, fällt klinisch nicht ins Gewicht«, so die Endokrinologin.
Selten tritt das late-onset AGS bei Kleinkindern und Kindern beider Geschlechter auf. Symptome hierfür können eine verfrüht einsetzende Schambehaarung, also eine vorzeitige Scheinpubertät, unreine Haut sowie erst ein beschleunigtes Wachstum und dann später ein Minderwuchs sein. Gut zu wissen: »Heute können wir alle Formen des AGS gut behandeln. Wichtig ist, dass Betroffene oder die Eltern auffällige Symptome rechtzeitig durch Endokrinologen abklären lassen«, sagt Reisch.
Da die Symptomatik eines AGS sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann, sei eine individuell angepasste Behandlung in allen Lebensphasen der Betroffenen wichtig, vom Säugling, über den Pubertierenden bis hin zum Erwachsenen, betont Reisch. Damit die optimale Versorgung von der Kinder- in die Erwachsenenmedizin nahtlos ineinander übergeht, gibt es die sogenannte Transitionssprechstunde, an der neben dem Patienten der Kinder- und der neue Facharzt teilnehmen. Hier wird alles über die Krankheit des jeweils Betroffenen und ihre Behandlung besprochen und dokumentiert.
Reisch etwa leitet eine solche Transitionssprechstunde: »Es ist mir ein großes Anliegen, dass die Behandlung der Kinder eins zu eins in der Erwachsenenmedizin fortgeführt wird. Wir wollen damit verhindern, dass es zu Therapieabbrüchen und in der Folge zu Nebenwirkungen und Einbußen der Lebensqualität kommt. Auch hinsichtlich einer späteren Familienplanung sollten die Betroffenen über diese Erbkrankheit aufgeklärt sein.«
Weitere Informationen zum Umgang mit der Erkrankung finden Betroffene bei der AGS Eltern- und Patienteninitiative (www.ags-initiative.de) oder beim Netzwerk Hypophysen- und Nebennierenerkrankungen ( www.glandula-online.de), das gemeinsam von Betroffenen, Angehörigen und Ärzten gegründet wurde.