Was ist das Mastzell-Aktivierungssyndrom? |
Isabel Weinert |
13.03.2024 16:45 Uhr |
Immer wieder verschiedene, belastende Symptome und keine Diagnose dafür – das kann Menschen verzweifeln lassen. / Foto: Adobe Stock/ Chanintorn.v
PTA-Forum: Was genau ist das Mastzell-Aktivierungssyndrom?
Peters: Bei MCAS spielen Mastzellen eine ganz wesentliche Rolle. Diese Zellen gehören zum angeborenen Immunsystem. Mit diesem Alarmsystem, das vor bestimmten Gefahren von außen schützen soll, kommen wir bereits auf die Welt. Mastzellen reagieren so ziemlich auf alles Störende, was an den Grenzen des Körpers ankommt. Diese Grenze zwischen Körper und Umwelt sind die Haut, der Darm und die Atemwege, aber auch Grenzen im Körper werden von ihnen geschützt, wie die Hirnhäute und die Blutgefäße. Dort wo sie sich befinden, unterhalten sie sehr enge Kontakte mit Nervenfasern, die sowohl an ihren Enden als auch entlang ihres Verlaufs direkt neben Mastzellen liegen und dort Botenstoffe mit Mastzellen austauschen können. Das bedeutet, Mastzellen schützen zum einen an der Grenze zur Umwelt, indem sie Substanzen von außen registrieren und dann Alarmreaktionen initiieren, die dafür sorgen, dass die fremden Substanzen draußen bleiben oder sofort vernichtet werden. Und auf der anderen Seite kommunizieren sie ständig über die Botenstoffe, die sie ausschütten, und über Nervenfasern mit dem übrigen Immunsystem und mit dem Gehirn und informieren darüber, wo an der Grenze etwas los.
PTA-Forum: Welche Ursachen hat MCAS?
Peters: Wir kennen drei Wege, über die sich ein MCAS entwickeln kann. Manche Betroffene reagieren heftiger mit den Mastzellen als andere, ohne dass wir die Gründe dafür kennen. Das nennen wir dann idiopathisch. Andere haben eine spezifische Mutation, meist eine sogenannte KIT-Mutation. Wenn Menschen zufälligerweise genetisch verändert auf die Welt kommen, also in diesem Fall mit einer Mutation des KIT-Rezeptors, des Rezeptors für den Wachstumsfaktor Stem Cell Factor (SCF) für Mastzellen, dann haben sie per se mehr Mastzellen, das heißt, das Alarmnetz ist viel dichter als bei Menschen ohne diese Mutation. Eine Reaktion auf Reize kann dann auch viel eher getriggert werden.
Bei manchen Betroffenen sind es Außenfaktoren wie Infektionen, die als Ursache zugrunde liegen. So können zum Beispiel nach einem Virusinfekt noch Reizstoffe im Körper verbleiben, auf die die Mastzellen mit einer erhöhten Alarmbereitschaft reagieren und die auch für eine Vermehrung der Mastzellen sorgen. Durch diese erhöhte Alarmbereitschaft der Mastzellen versucht der Körper sich gut vorzubereiten, um das Virus bei erneutem Erscheinen sofort abwehren zu können. Interessanterweise kann Stress in allen drei Fällen durch die Ausschüttung von Stressbotenstoffen, die die Mastzellen aktivieren, die Alarmreaktion verstärken.
PTA-Forum: Über welche Substanzen kommuniziert die Mastzelle?
Peters: Histamin ist einer der vielen Stoffe, mit denen die Mastzelle kommuniziert. Mastzellen sind maßgebliche Produzenten dieses Botenstoffes im Körper. Gleichzeitig schütten sie noch viele weitere Stoffe aus, die dann zum Beispiel Immunzellen anlocken wie Makrophagen und T-Zellen. Mastzellen können so die angeborene Immunantwort verstärken und gleichzeitig den Übergang zu Lernprozessen im Immunsystem anstoßen, für die die Zellen des adaptiven Immunsystems verantwortlich sind. Zu diesen Stoffen gehören Neurotransmitter wie das Acetylcholin, das man sonst aus cholinergen Nervenfasern des autonomen Nervensystems kennt; Neurotrophine wie der Nerve Growth Factor (NGF), der für lebenslange Umbauaktivität im Nervensystem zuständig ist; und Neuropeptide, die sonst aus sensorischen Nervenfasern ausgeschüttet werden und Entzündungsprozesse regulieren.
Außerdem schütten Mastzellen eine breite Palette von Zytokinen und Chemokinen aus. Das sind die Botenstoffe, die das Immunsystem benutzt, um Abwehrreaktionen des Körpers zu koordinieren. Neben Gefahrensignalen, die von Parasiten, Bakterien, Viren oder Giftstoffen ausgehen, reagiert die Mastzelle auf eine ganze Reihe von Reizen. Dazu gehören auch Kälte, Hitze oder auch Kratzen und sogar psychischer Stress.
PTA-Forum: Warum kann MCAS sogar in einem anaphylaktischen Schock münden?
Peters: Wenn ich viele Mastzellen habe, die Histamin und viele weitere Substanzen ausschütten, dann ist das nicht mehr eine Angelegenheit nur an der Stelle, an der die Mastzellen sitzen, sondern dann kommt es zu einem sogenannten Spill over. Dabei gelangen Botenstoffe aus der Mastzelle auch ins Blut und können so auf den ganzen Körper einwirken, also systemisch. Dort sorgen sie dann zum Beispiel dafür, dass das Herz schneller schlägt, dass der Darm versucht, alle Schadstoffe herauszuwaschen, dass die Haut an Stellen juckt, an denen das Problem gar nicht besteht. Betroffenen wird schwindelig, weil sich die Blutgefäße im Gehirn eng stellen. Diese systemische Reaktion kann alle Symptome erklären, die bei einem systemischen Verlauf auftreten können, bis hin zu einem anaphylaktischen Schock.
Normalerweise wird so ein Schock durch Giftstoffe oder Allergene ausgelöst, die an der Oberfläche der Mastzelle IgE-Antikörper binden können. Diese sogenannten Antigene werden also durch IgE erkannt. Ein Allergen kann so dafür sorgen, dass das Histamin eine starke systemische Wirkung entfaltet und auf einmal alle Alarmsysteme losgehen, sodass sich ein Kreislaufschock entwickelt. Wenn man das Pech hat, eine KIT-Mutante zu sein, dann hat man per se eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert. Die KIT-Mutation kann man übrigens einfach im Blut nachweisen. Im Kontext von Infekten hingegen reguliert sich die Zahl der Mastzellen oft von alleine binnen einiger Monate wieder herunter.
PTA-Forum: Wie lässt sich MCAS diagnostizieren?
Peters: Beim Mastzell-Aktivierungssyndrom würden Sie immer erwarten, dass von den vier Organen, die am häufigsten reagieren – Haut, Darm, Lunge, Herz-Kreislauf-System – mindestens zwei Systeme gleichzeitig Symptome zeigen. Wenn solch eine systemische Reaktion da ist, dann können Sie auch etwas im Blut messen. In diesem Fall können Sie zum Beispiel Tryptase in einer erhöhten Menge im Blut nachweisen. Sie wird bei ihrer Aktivierung neben dem Histamin und weiteren Botenstoffen von den Mastzellen freigesetzt.
Für eine aussagekräftige Diagnose muss man jedoch von der Person, bei der man misst, den Normalwert an Tryptase im Blut kennen, denn nur der Anstieg gegenüber dem Normalwert dieser einzelnen Person kann bewertet werden. Jeder Mensch hat andere Normalwerte. Es ist also ganz individuell, wann der persönliche Normalwert überschritten wird. Die Forschung hat festgelegt, dass der Tryptasewert mindestens 120 Prozent des Normalwerts betragen muss, um die Diagnose MCAS zu stellen – und das in einem Zeitfenster von etwa vier Stunden nach Beginn der Symptome. Diese Werte werden nach wie vor diskutiert. Will man einen solchen Anstieg messen, werden Patienten gebeten, an einem Tag zur Untersuchung zu kommen, an dem sie keine Symptome haben, und an einem anderen Tag, an dem sie Symptome haben, damit man die Baseline ermitteln und den Anstieg der Tryptase erkennen kann.
Wie wird MCAS behandelt?
Wenn Mastzellen getriggert werden, ist Histamin der Botenstoff, der einen Großteil der Symptome ausmacht, und dagegen gibt man Antihistaminika. Sie puffern nur nicht alles weg, weil Mastzellen neben Histamin viele weitere Stoffe ausschütten, aber sie sind doch sehr hilfreich, auch, weil sie ein wenig den Schlaf anstoßen. Das ist oftmals ein guter Nebeneffekt, der, wenn man plötzlich besser schläft, auch den Stress reduziert. Mastzellstabilisatoren spielen in der Therapie eine untergeordnete Rolle, weil ihre Wirkung häufig nicht stark genug ist. Besteht die Gefahr eines anaphylaktischen Schocks, müssen die Patienten außerdem stets eine Notfallmedikation bei sich haben, bestehend aus flüssigem Glucocorticoid, flüssigem Antihistaminikum und einer Adrenalinspritze. Wegen der Nebenwirkungen werden orale Glucocorticoide nur selten eingesetzt.
Bekannte Auslöser und Verstärker zu meiden, wenn sie als mögliche Ursachen gefunden werden konnten, ist ebenfalls Teil der Therapie. Damit sind Infekte, Allergene, Umweltstoffe und auch psychischer Stress gemeint. Im Falle einer KIT-Mutation sieht dabei die Perspektive natürlich anders aus, als wenn ein Infekt das Ganze getriggert hat.
Wie viele Menschen haben MCAS?
Es gibt keine guten Zahlen dafür, weil es keine gute standardisierte Diagnostik gibt. Es wird in der Regel nur in Zentren, die darauf spezialisiert sind, ausreichend umfangreich untersucht und dann auch sicher diagnostiziert. Das heißt, wir haben wahrscheinlich eine hohe Grauzone, auch bei der Differenzierung in idiopathisch oder mit nachweisbarer Ursache. Da gibt es keine guten Zahlen.
PTA-Forum: Wohin wenden sich Menschen, wenn sie den Verdacht auf ein MCAS haben?
Peters: Wenn Symptome an mindestens zwei Organsystemen auftreten, wie zuvor beschrieben, dann wendet man sich am besten zuerst an einen niedergelassenen Hautarzt. Kann er mit der Symptomatik nicht viel anfangen, sollte man sich an eine Uniklinik oder ein spezialisiertes Zentrum wenden. Von Behandlern, die die Symptome abtun und eine nicht medizinische und nicht behandelbare Ursache vermuten, sollte man sich nicht beeindrucken lassen. Gerne wird von Nicht-Experten, wenn sie keine Triggerfaktoren für die Symptome finden können, das Symptombild als rein psychisch interpretiert.
Es wäre hier viel gewonnen, wenn immer der ganze Mensch betrachtet würde, also alle möglichen Ursachen in Betracht gezogen würden. Im Grunde ist hier ein gute somatische und eine gute psychische Diagnostik gefragt, denn die Symptome können sowohl biologisch als auch durch Stress getriggert und wechselseitig verstärkt werden. Es betrifft also häufig nicht nur entweder die körperliche oder die seelische Seite, sondern beides zusammen. Diese wechselseitigen Effekte sind auch bei MCAS meist nicht zu trennen.
PTA-Forum: MCAS polarisiert zum Teil, obwohl es sich eindeutig um eine echte Krankheit handelt, warum?
Peters: Wenn das Symptombild einer Erkrankung sehr vielfältig ist und die Auslöser genauso vielfältig sind, ist das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen sehr groß. Viele verschiedene Betroffenen- und Experten-gruppen versuchen das Thema sozusagen für sich zu pachten und ihm Eindeutigkeit in der Erklärung zuzuweisen. Daran merkt man, dass das Krankheitsbild insgesamt nicht gut verstanden ist, und dass da ein Bedarf besteht, die Diagnostik zu verbessern und klarer zu definieren, was alles wie untersucht und behandelt werden sollte.
PTA-Forum: Warum wurde MCAS zwar in ICD-10 aufgenommen, in ICD-11 jedoch nicht?
Peters: Das liegt zum Beispiel daran, dass die Diagnostik schwierig ist und sich sehr viele Gruppierungen auf eine Art dazu positioniert haben, die die Diagnose nicht eindeutiger gemacht haben. Auf diese Weise verschwindet solch eine Diagnose auch wieder aus den »International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems«, weil man sie im klinischen Alltag gar nicht gut anwenden kann.
PTA-Forum: Wie geht es weiter mit MCAS?
Peters: Die kommenden Jahre werden hoffentlich durch die Forschung mehr Licht in die Aufklärung der MCAS und ihrer vielfältigen Einflussfaktoren bringen. Forschungsergebnisse fließen dann in Leitlinien ein, die die Diagnostik und Behandlung auch für Nicht-Spezialisten erleichtern. So wird das MCAS eine der Krankheiten sein, die wir in die AWMF-Leitlinie »Psychosomatische Dermatologie« mit aufnehmen. Wir haben gerade angefangen, diese Leitlinie zu überarbeiten und hoffen, dass wir sie Ende 2025, Anfang 2026 auf den neusten Stand gebracht haben. Bis dahin wollen wir erarbeitet haben, wie man ganzheitlich von allen Seiten vorgeht.
PTA-Forum: Vielen Dank für das Gespräch.