Was tun bei Kiefer-, Kopf- und Nackenschmerzen? |
Bei der craniomandibulären Dysfunktion ist das Zusammenspiel verschiedener Muskeln, Sehnen und Gelenke gestört. Das macht sich vor allem durch Schmerzen am Kiefer sowie Kopf und Nacken bemerkbar. / Foto: Getty Images/adamkaz
Bei einer craniomandibulären Dysfunktion (kurz CMD, von Cranium = Schädel und Mandibula = Unterkiefer) liegt eine Störung am Kauapparat vor. Ein Grund kann beispielweise sein, dass der Biss nicht stimmt und dadurch Ober- und Unterkiefer nicht richtig zusammenpassen. Betroffene haben direkt am Kiefer in unterschiedlicher Ausprägung Beschwerden. Manche können etwa den Mund nicht wie üblich drei Finger breit öffnen und haben sowohl in Ruhe als auch unter der Kaubewegung Schmerzen. Dazu können sich Knack- und Reibegeräusche beim Öffnen und Schließen des Kiefers gesellen. Gleichzeitig können sich durch die Wechselwirkungen mit anderen Körperregionen weitere Symptome entwickeln, etwa unspezifische Schmerzen am Ohr, Kopf, Nacken oder Rücken, Tinnitus oder Schwankschwindel.
Das Problem: Nicht bei jedem Betroffenen werden die Beschwerden direkt auf eine CMD zurückgeführt. So kann viel Zeit bis zur richtigen Diagnosestellung vergehen. John Langendoen, Physiotherapeut aus Kempten, erklärt im Gespräch mit PTA-Forum: »Vielen Menschen mit CMD kann der Zahnarzt helfen, etwa wenn sich die Kauflächenkontakte und die Zahnführung sowie der Zahnstatus optimieren lassen, sodass der Biss wieder richtig passt. Manche Patienten brauchen unterstützend therapeutische Maßnahmen zur Linderung der Beschwerden und Verbesserung deren Ursachen.«
Gemeinsam mit den Physiotherapeuten Karin Sertel und Jürgen Berkmiller hat Langendoen den Ratgeber »Kiefer, Kopf und Gesicht – das große Selbsthilfebuch« geschrieben. Das Buch richtet sich an Betroffene mit CMD, denen der Zahnarzt bereits helfen konnte, die aber ergänzend die Ursachen verstehen und sie aktiv angehen möchten. Er spricht auch jene an, die trotz Behandlung weiterhin unter Schmerzen leiden. Außerdem sehen die Autoren das Buch als Impulsgeber für Behandler, vor allem Physiotherapeuten, um CMD-Patienten durch ein stimmiges Gesamtkonzept besser zu unterstützen.
»Es ist für eine nachhaltig erfolgreiche Therapie wichtig, die Ursache der CMD und ihrer Beschwerden zu finden und diese zu behandeln«, sagt Langendoen. Unter der Federführung von Zahnarzt oder Kieferorthopäde müsse der Patient präzise zu seinen Beschwerden befragt, gründlich untersucht und basierend auf den Ergebnissen ein Behandlungsplan erstellt werden, den es längerfristig konsequent durchzuführen gelte.
Als Erklärmodell zum Beschwerdebild der CMD dient den Autoren das 1992 veröffentlichte Modell der drei interaktiven Subsysteme der Stabilität (M3SS) von Professor Dr. Manohar M. Panjabi. Demnach entsteht im Körper Stabilität – gemeint ist damit die Kontrolle bei Haltungen und Bewegungen (»dynamische Kontrolle«) – durch drei aufeinander abgestimmte Komponenten: ein passives, ein aktives und ein kontrollierendes Subsystem.
Im craniomandibulären Bereich machen das passive Subsystem die knöchernen, knorpeligen und Kapselbandstrukturen die Bewegungseinheit Kiefergelenk aus, zudem die Zähne mit ihren Kontakten und kieferorthopädischen Hilfsmitteln wie Spangen, Drähte und Schienen. Das aktive Subsystem sind hier die Muskeln an Kopf, Hals und Nacken sowie im Mund und Rachen. Das Kontrollsubsystem bilden das Nervensystem sowie das männliche und weibliche Hormonsystem.
Wie Langendoen erklärt, werde der Zustand des passiven Subsystems und eventueller Probleme über Nervenverbindungen im Kiefergelenk an das zentrale Nervensystem (ZNS) als Kontrollsubsystem übermittelt. Bei der Entstehung der Beschwerden spielt das ZNS meist eine kleine Rolle, beeinflusst aber stark, wie die Beschwerden im passiven Subsystem verlaufen. »Entscheidend ist, wie das ZNS mit Schmerzen, physischen und seelischen Traumata und mit anhaltenden emotionalen Belastungen wie Dauerstress umgeht. Das ist bei jedem individuell und erklärt teilweise, warum manche Menschen mit großen Zahnproblemen kaum Beschwerden haben und andere mit kleinen Kauflächenstörungen starke Schmerzen und Verspannungen spüren«, so Langendoen.
Welche Rolle spielen die Muskeln bei CMD? Erfolgt vom passiven Kiefergelenk-Subsystem ein Schmerzsignal an das nervale Kontrollsubsystem, kann dieses als Schutzfunktion dafür sorgen, dass Muskeln etwa im Gesicht oder Nacken ausgesetzt (unteraktiv) oder verspannt (überaktiv) werden. Wird dies übertrieben oder geschieht zu lange, verstärkt sich das Beschwerdebild.
Laut Langendoen können neben Schmerz im passiven Subsystem auch Angst und Stress eine Ursache für Muskelprobleme sein. Gelegentliches nächtliches Knirschen und Pressen mit den Kaumuskeln (Bruxismus) ist physiologisch und dient dem Stressabbau. Schmerzhaft wird es aber, wenn der Stress anhält und dementsprechend oft nachts stark geknirscht wird. Dann sind die Muskeln überaktiv und morgens schmerzhaft verspannt. Die beschriebenen Symptome können folgen: Kopfschmerzen, Ohrgeräusche, Sehstörungen und Schwindel.
»Wenn Behandler und Patient mit CMD diese Zusammenhänge verstehen, können sie die Beschwerden besser behandeln«, so Langendoen. Der von ihm mitverfasste Ratgeber bietet daher neben Hintergrundinformationen zu Kiefergelenkbeschwerden auch eine Fülle an Maßnahmen, wie Menschen mit CMD ihre Beschwerden therapiebegleitend in Eigenregie oder gemeinsam mit ihrem Therapeuten lindern können. Dabei ist allen drei Subsystemen mindestens ein eigenes großes Kapitel gewidmet. Zudem führen Links zu weiteren Anleitungen und Videos.
Die Maßnahmen im Buch bestehen zum einen aus Lockerungs- und Kräftigungsübungen der betroffenen Körperstrukturen (Gelenke und Muskeln) und aus Übungen für eine bessere Körperhaltung und Beweglichkeit. Auch richtig angeleitete Massagen und Taping der betroffenen Körperregionen können hilfreich sein. Diese eignen sich auch für Menschen, die akut keine Beschwerden im Kiefergelenk haben, sondern nur muskulär verspannt sind oder Verspannungen vorbeugen und ihre Beweglichkeit erhalten möchten. Auch das Thema Stressbewältigung kommt nicht zu kurz: Eine einfache Hilfe, sich zu beruhigen, ist gezieltes Atemtraining. Dies kann in verschiedenen Varianten praktiziert werden, von tiefer Bauchatmung über Nasenatmung bis hin zur Lippenbremse.
Langendoen ist überzeugt: »Es sind die kleinen Dinge des Alltags, die uns dabei helfen können, dass wir uns besser fühlen und damit Stress abbauen.« Ein eigenes Kapitel dreht sich daher um das Genusstraining mit allen Sinnen. Dafür ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen, herauszufinden, über welchen Sinn man selbst besonders gut und leicht zur Ruhe findet, zum Beispiel über eine bestimmte Musik, einen eigenen Gesang, über Düfte wie Lavendel und Bergamotte, über blaue Farbtöne oder Massagegriffe an Kopf und Hals. Und dann kommt es darauf an, die Entspannung bewusst zu erleben und dauerhaft in sein Leben zu integrieren, sozusagen als Ruhe- und Kraftoase.
Eine weitere Möglichkeit, Stress abzubauen, bietet das sogenannte Vagus-Training. Hierbei wird gezielt der für Entspannung und Regeneration stehende Teil des vegetativen Nervensystems, der Parasympathikus, angesprochen. Der Vagusnerv (10. Hirnnerv) ist dabei der längste Hirnnerv mit parasympathischen Funktionen – weitere sind der Augenbewegungsnerv (3. Hirnnerv), der Faszialisnerv (7. Hirnnerv) und der Zungen- und Rachennerv (9. Hirnnerv). Der Ratgeber beschreibt, mit welchen Übungen sich diese gezielt stimulieren lassen. »Vor allem ein funktionierendes Kontrollsubsystem ist für einen anhaltenden Behandlungserfolg bei CMD und für unsere Gesundheit insgesamt entscheidend«, so Langendoen abschließend.
Das große Selbsthilfe-Buch. Taping, Massagen & Übungen bei Schmerzen & Beschwerden
TRIAS Verlag, 2024, 240 Seiten, 260 Abbildungen, ISBN: 9783432117782, EUR 29,99.