Welche Arzneistoffe sind teratogen? |
Juliane Brüggen |
01.09.2021 16:00 Uhr |
Ob ein Arzneimittel während der Schwangerschaft erforderlich ist und welches geeignet ist, entscheiden Arzt und Patientin im individuellen Fall. / Foto: Fotolia/nd3000
Ein Teratogen ist ein äußerer (exogener) Einflussfaktor, der Fehlbildungen oder bleibende funktionelle Anomalien eines Kindes während der Entwicklung innerhalb der Gebärmutter verursacht. Das betrifft nicht nur Arzneimittel – die Einflüsse umfassen biologische, chemische oder physikalische Faktoren. So können beispielsweise auch ionisierende Strahlen, Alkoholkonsum oder bestimmte Infektionen, zum Beispiel mit dem Röteln-, Masern- oder Zika-Virus, teratogen wirken. Zudem besteht unabhängig von Teratogenen ein Hintergrundrisiko: Etwa drei Prozent aller Feten kommen mit einer grobstrukturellen Fehlbildung auf die Welt. Die genauen Ursachen sind meist unbekannt.
In der Phase der Organentwicklung (Tag 15 bis 56 nach der Konzeption) ist der Embryo besonders anfällig für schädliche Einflüsse (Noxen) von außen. In diesem Stadium entstehen die meisten Fehlbildungen. Ab Tag 56 nimmt die Empfindlichkeit des Fetus gegenüber äußeren Noxen ab, doch können auch in dieser Phase (Fetalperiode) schwerwiegende Organschädigungen auftreten.
Jedes Arzneimittel ist zunächst ein potenzielles Teratogen – eine hundertprozentige Sicherheit für »Nicht-Teratogenität« gibt es nicht. Zur Beurteilung der Teratogenität greifen Ärzte und Wissenschaftler vor allem auf Beobachtungsdaten zurück und kommen so zu Risikowahrscheinlichkeiten.
Bei »unzweifelhaft starken Teratogenen« ist das Risiko für grobstrukturelle Fehlbildungen bei einer Monotherapie bis zum Zehnfachen erhöht, also auf 30 Prozent. Arzneimittel, deren teratogenes Potenzial im ersten Trimenon erwiesen ist, sind:
Die »gesicherten Teratogene« erhöhen das Risiko bei einer Monotherapie bis zum Dreifachen auf zehn Prozent:
Manche Arzneistoffe werden als »schwache Teratogene« eingeschätzt, mit einem Risiko von 1 zu 100 bis 1 zu 1000 exponierter Feten:
Arzneimittel, die hier nicht aufgeführt sind, dürfen nicht automatisch als sicher angesehen werden. So unterliegen beispielsweise neben Thalidomid auch die strukturverwandten Stoffe Lenalidomid und Pomalidomid einem strengen Schwangerschaftsverhütungsprogramm.
Bei der Verordnung und der Abgabe von Retinoiden zur oralen Einnahme sowie Thalidomid, Lenalidomid und Pomalidomid sind besondere Vorschriften zu beachten, die dazu dienen, Schwangerschaften unter Einnahme dieser Substanzen zu vermeiden. Thalidomid, Lenalidomid und Pomalidomid dürfen nur auf einem speziellen, zweiteiligen Rezeptformular (T-Rezept ) verordnet werden. Dieses Rezept ist bis sechs Tage nach dem Ausstellungsdatum gültig. Der Arzt darf darauf nur ein Arzneimittel verordnen. Außerdem muss er durch Ankreuzen bestätigen, dass die Sicherheitsbestimmungen eingehalten wurden (zwei Kreuze) und angeben, ob es sich um eine In- oder Off-Label-Anwendung handelt (ein Kreuz). Insgesamt sind also drei von vier Feldern auf dem Rezept angekreuzt. Außerdem gelten Höchstmengen pro Verschreibung: Für Frauen im gebärfähigen Alter darf maximal der Bedarf für vier Wochen verordnet werden, ansonsten der Bedarf für zwölf Wochen.
Die Retinoide Acitretin, Alitretinoin und Isotretinoin zur oralen Einnahme werden zwar auf einem üblichen Muster-16-Rezept verordnet, für Frauen im gebärfähigen Alter gelten aber besondere Regeln: So ist die Gültigkeit wie bei T-Rezepten auf sechs Tage nach der Ausstellung begrenzt und die Menge auf den Bedarf für 30 Tage.
Von fetotoxischen Effekten spricht man, wenn Arzneimittel das ungeborene Kind durch ihre Wirkungen und Nebenwirkungen beeinflussen. Nimmt eine Schwangere zum Beispiel ein Opioid ein, kann dies Entzugssymptome und Atemdepression beim Neugeborenen auslösen.
Bei Einnahme im zweiten und dritten Trimenon wurden bei diesen zentral wirksamen Arzneimitteln fetotoxische Effekte beobachtet:
Aber auch andere Arzneimittel können sich im zweiten und dritten Schwangerschaftsdrittel auf den Fetus auswirken und beispielsweise Organfunktionen beeinflussen. Zu diesen gehören:
Zu bedenken ist, dass eine Exposition nicht immer und zwangsläufig zu den genannten Effekten führt.
Für viele Krankheitsbilder stehen Arzneimittel zur Auswahl, die bei Schwangeren ausreichend erprobt sind. Dennoch bewegen sich Ärzte oft im Off-Label-Bereich, da viele Arzneimittel der Fachinformation zufolge in der Schwangerschaft kontraindiziert sind oder einer »strengen Indikationsstellung« bedürfen. Recherche ist erforderlich, um das Medikament zu finden, zu dem nach der aktuellen wissenschaftlichen Datenlage die meisten Erfahrungen und keine oder vergleichsweise geringe Verdachtsmomente auf kindsschädigende Wirkungen vorliegen. Eine fundierte Informationsquelle sowohl für Fachpersonal als auch für (schwangere) Frauen ist die Datenbank Embryotox.
Natürlich gibt es Situationen, in denen eine alternative Behandlung nicht wirksam oder nicht möglich ist. Das kann zum Beispiel bei Krebserkrankungen der Fall sein. Bei chronischen Krankheiten ist immer zu bedenken, dass ein abruptes Absetzen einer Dauermedikation das Kind ebenfalls gefährden kann. Hier ist gemeinsam mit dem Arzt zu prüfen, wie die bestmögliche Therapie aussieht und ob eine Umstellung erforderlich ist.
Viele Schwangerschaften entstehen ungeplant. Deshalb ist es sinnvoll, dass Frauen im gebärfähigen Alter von vorneherein Arzneimittel erhalten, die kompatibel mit einer Schwangerschaft sind – sofern dies möglich ist. Die Barmer fordert vor dem Hintergrund einen Medikationsplan für alle Frauen, die im gebärfähigen Alter sind. Der aktuelle Arzneimittelversorgungsreport der Krankenkasse offenbarte, dass Frauen und Schwangeren noch zu oft Arzneimittel verordnet werden, die potenziell kindsschädigend sind.
Fachbücher, zum Beispiel Schaefer, C., Spielmann, H., Vetter, K. Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit
Publikationen, zum Beispiel Dathe K, Schaefer C: The use of medication in pregnancy. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 783–90
Online-Datenbanken: www.embryotox.de, www.mothertobaby.org (Englisch)
Spezialisierte Beratungsstellen, zum Beispiel Pharmakovigilanz- und Beratungszentrum für Embryonaltoxikologie der Charité Berlin