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Afantasie

Wenn das Vorstellungsvermögen fehlt

Knapp 4 Prozent der Bevölkerung haben kein oder ein sehr gering ausgeprägtes willkürliches Vorstellungsvermögen. Das bedeutet, die Betroffenen können Erinnerungen oder auch Gelesenes nicht visualisieren und sich meist auch keine Gerüche, Geräusche oder Geschmäcker vorstellen. Was Wissenschaftler Afantasie nennen, betrifft vor allem die Bereiche Gesichtserkennung und Gedächtnis.
AutorKontaktBarbara Erbe
Datum 26.05.2023  08:15 Uhr

Wie das Gesicht eines vertrauten Menschen aussieht, aber auch, wie sich die im Laden entdeckte Pflanze auf dem heimischen Fensterbrett machen würde oder wie das frisch zubereitete Lieblingsessen lockt, stellen sich viele gerne vor. Etwa 3 bis 4 Prozent der Menschen jedoch seien dazu nicht in der Lage, berichtet der Psychologe Merlin Monzel im Gespräch mit PTA-Forum. Er forscht am Institut für Psychologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn zu diesem Phänomen, das in der Wissenschaft mit dem Begriff Afantasie bezeichnet wird.

Erstmals beschrieb 2010 der britische Neurologe Adam Zeman ausführlich einen Patienten, der – vermutlich durch einen Schlaganfall – sein bildliches Vorstellungsvermögen verloren hatte. Daraufhin meldeten sich etliche Betroffene bei Zeman und teilten ihm mit, dass auch sie nichts visualisieren könnten. Sie waren bis dahin davon ausgegangen, dass das bei allen Menschen so war. Heute widmet sich ein ganzer Forschungszweig der Afantasie, die definiert ist als fehlendes oder stark reduziertes, willentliches bildliches Vorstellungsvermögen. »Willentlich deshalb, weil viele Betroffene durchaus in Bildern träumen oder diese spontan erleben«, betont Monzel. »Aber sie können diese Eindrücke nicht bewusst hervorrufen.« Darüber hinaus hätten Afantasisten häufig auch Probleme damit, sich Gerüche, Geräusche oder Geschmäcker vorzustellen. »Sie wissen etwa, dass eine Zitrone sauer ist, können den Geschmack aber nicht abrufen.«

Mögliche Ursache bei der Signalweiterleitung

Worin Afantasie ihren Ursprung hat, wird noch erforscht. Eine These sei, dass bei Menschen mit Afantasie die Weiterleitung von Signalen aus dem Frontallappen des Gehirns (wo die Entscheidung entsteht, mentale Bilder zu generieren) zur Sehrinde (dem visuellen Kortex) gestört ist, erläutert Monzel. Wahrscheinlich habe Afantasie aber verschiedene Ursachen. So gebe es Menschen, bei denen das Phänomen angeboren scheint, und andere, die es im Lauf des Lebens erworben haben. Und es gibt eindeutig eine familiäre Komponente: Wenn die Geschwister einer Person betroffen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Afantasie für diese rund zehnmal höher. Schließlich kann Afantasie auch Folge von Verletzungen im Gehirn durch Krankheit oder Unfall (organische Afantasie) oder auch von extremen psychischen Belastungen (psychogene Afantasie) sein. »So sind einige Fälle bekannt, wo Menschen nach traumatischen Erlebnissen, etwa einem Missbrauch, ihr Vorstellungsvermögen verloren haben«, nennt Monzel als Beispiel. Dahinter könnte ein Schutzmechanismus des Gehirns stehen: Die mit dem Trauma verbundenen, schrecklichen Bilder sind nicht abrufbar und können folglich keine negativen Emotionen auslösen.

Klinisch relevant sei das Phänomen der Afantasie kaum, bemerkt Monzel. »Betroffene, die schon immer damit leben, haben ja gar keinen Vergleich, sie kompensieren die Leerstelle mithilfe anderer Fähigkeiten.« Der Forscher weiß, wovon er spricht, denn er ist selbst Afantasist und hat das erst als Student bemerkt, als er zufällig auf eine Kommilitonin traf, die auch betroffen war. Sie erklärte ihm, dass die allermeisten Menschen, die sagten, sie könnten sich etwas »vorstellen«, damit meinten, dass sie tatsächlich in der Lage waren, vor ihrem inneren Auge Bilder erstehen zu lassen. Damit war sein Forschungsdrang in diese Richtung geweckt.

Rund zwei Drittel derjenigen, die von ihrer Afantasie wissen, leben Befragungen zufolge davon ziemlich unbeeindruckt und fühlen sich in ihrem Alltag nicht beeinträchtigt. Ein Drittel aber leide darunter und fühle sich manchmal belastet, berichtet Monzel. Starke funktionelle Einschränkungen und einen hohen Leidensdruck empfänden allerdings nur wenige. In den meisten Fällen helfe Betroffenen allein schon die Aufklärung über das Phänomen und die Möglichkeit, ihre Eigenheit zu verstehen.

Eine Eigenheit, die durchaus Einschränkungen mit sich bringen kann. So berichten Afantasisten, dass sie von Schlüsselerlebnissen ihres Lebens wie etwa ihrer Einschulung oder ihrer Hochzeit keine Bilder verinnerlicht hätten, die ihnen die Erinnerung daran erleichterten. In einer Untersuchung der Forschungsgruppe Afantasie am Institut für Psychologie der Universität Bonn zeigte sich deutlich, dass sich Afantasisten an weniger Details aus ihrer Vergangenheit erinnern konnten als Menschen mit durchschnittlicher Vorstellungskraft. Auch im verbalen und visuellen Kurzzeitgedächtnis hatten Personen mit Afantasie leichte Probleme: Sie merkten sich Wörter und Formen etwas schlechter als eine Kontrollgruppe.

»Diese Ergebnisse haben wir im Rahmen der Theorie der dualen Codierung erklärt«, erläutert Monzel. Demnach lernt es sich am effizientesten, wenn man beispielsweise Vokabeln nicht nur im Geist aufsagt, sondern sich die zugehörigen Objekte auch bildlich vorstellt – was Afantasie-Betroffene ja kaum oder gar nicht können. Auch die Gesichtserkennung ist bei ihnen nach den Erkenntnissen der Bonner Forschungsgruppe etwas beeinträchtigt; sie merken sich Gesichter und Personen deshalb meist kontextbezogen und anhand besonderer Merkmale – beispielsweise ein auffälliges Tattoo – und hätten dann zum Beispiel Schwierigkeiten, wenn sie eine Kollegin nicht am Arbeitsplatz, sondern im Kino träfen.

Ein Denkstil, keine Krankheit

Auch wenn Menschen mit Afantasie mit der bildlichen Vorstellungskraft eine beinahe universelle Fähigkeit fehlt, betrachten die meisten Forscher mangelnde Vorstellungskraft eher als alternativen Denkstil und nicht als eine Krankheit. »Alltägliche Aufgaben lassen sich auch ohne visuelle Strategien lösen«, betont Monzel. An manche Ereignisse könnten sich Betroffene zwar schlechter erinnern, dafür fühlten sie sich aber unter Umständen auch weniger von ihnen belastet.

Trotzdem wünschten sich einige Afantasisten, sie könnten Ereignisse aus ihrer Vergangenheit in Bildern abrufen. Denn der Verlust autobiografischer Erinnerungen kann schmerzhaft sein und im schlimmsten Fall das Identitätsgefühl bedrohen. Möglicherweise können regelmäßige Vorstellungsübungen die eigene Imaginationskraft verbessern. Betroffene könnten sich beispielsweise ein Objekt ansehen und anschließend versuchen, dieses so detailgetreu und lange wie möglich im Kopf zu behalten.

Auch biochemische Substanzen könnten in Zukunft das Vorstellungsvermögen aktivieren. Einige Afantasisten berichten, sie hätten nach dem Konsum von Drogen wie LSD oder Ayahuasca, einem aus Südamerika stammenden, halluzinogenen Trank, vorübergehend oder dauerhaft geistige Bilder produziert. »Das waren meines Wissens vor allem Fälle von erworbener Afantasie, was die Frage aufwirft, ob die Bilder schon mal dagewesen sein müssen, um sie über Drogen zu reaktivieren«, spekuliert Monzel. Auch mit elektrischer Hirnstimulation wurde bereits experimentiert.

Die Forschung zu Behandlungsmöglichkeiten stecke bei dem noch sehr jungen Forschungszweig allerdings noch absolut in den Kinderschuhen, berichtet der Psychologe. »Wir haben ja gerade erst begonnen zu verstehen, was Afantasie überhaupt ist, und Modelle entwickelt, wie sie sich messen lässt.« Nun gehe es daran, die Auswirkungen weiter zu erforschen, um dann gegebenenfalls zu den Interventionsmöglichkeiten zu gelangen. Letztlich aber lasse sich das Vorstellungsvermögen vor allem als eines begreifen, »als eine menschliche Fähigkeit mit Vor- und Nachteilen. Manche Menschen sind gut in Fußball, andere erschaffen Bilder – sei es auf dem Papier oder im Kopf.«

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