Wenn die Seele durch den Körper spricht |
Weg von der reinen »Reparaturmedizin« hin zur »sprechenden Medizin«: Für eine gezielte Diagnose und Therapie kann es wichtig sein, auch die Lebensgeschichte des Patienten zu berücksichtigen. / Foto: iStock/Tinpixels
»Eine auf dem Verständnis des menschlichen Krankseins basierende Diagnose und Therapie machen daher eine ärztliche Anamnese erforderlich, die soziale, psychische und biographische Aspekte, sprich: das Leben des Patienten und seinen Lebenslauf stärker berücksichtigt«, betonte Professor Claudia Christ.
Unabdingbar in der Anamnese sei es, die Lebensgeschichte und Ereignisse in der Kindheit und Jugend zu hinterfragen. So könnten sich häusliche Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch in frühen Lebensjahren auf die Gehirnentwicklung auswirken und zu somatoformen Beschwerden führen. Dazu zählen Schmerzen, Schlafstörungen sowie Funktionsstörungen der inneren Organe und des Bewegungsapparates, aber auch generelle funktionelle Beschwerden mit zunächst unklarer Genese. Um den tiefer liegenden »Sinn der Symptome« zu erfassen, sei es auch wichtig, die familiäre Grundkonstellation, die berufliche Situation oder die Art der Bewältigung von Verlusterfahrungen sowie die grundlegende Lebenseinstellung zu durchforsten, so Christ.
Kränkungen wie »Du bist nicht gut genug« könnten innerpsychischen Druck und letztlich Krankheiten erzeugen. Umgekehrt können Krankheiten Kränkungen, Angst und Frust hervorrufen. Nur das bessere Verständnis des Beschwerdebildes durch Analyse der bio-emotional-sozialen Verfassung ermögliche eine erfolgversprechende Behandlung. »Wenn wir neugierig werden auf den Patienten und schauen, wer sich dahinter versteckt, dann gelingt eine patientenzentrierte Therapie besser«, so die Psychotherapeutin, die sich in der entsprechenden Fortbildung von Medizinern engagiert.
Krankheit und Schmerzen seien immer ein Puzzle aus körperlichen, psychischen und sozialen Aspekten. Das müsse auch der Patient wissen, um gegebenenfalls einen Perspektivwechsel einleiten und Veränderungen im Krankheitsgeschehen herbeiführen zu können. Denn: »Wer etwas haben möchte, was er noch nie gehabt hat, muss etwas tun, was er noch nie getan hat«, unterstreicht Christ.
Die Seminarreihe fand im Rahmen des Deutschen Schmerz- und Palliativtages 2022 der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM) statt.
Nicht nur Ärzte, auch Betroffene selbst wissen oft zu wenig über die Bedeutung der Mechanismen, Auslöser und Verstärker der Symptome, unter denen sie leiden: Das hat die DGPM bereits 2020 bei Veröffentlichung der Patientenleitlinie »Funktionelle Körperbeschwerden verstehen und bewältigen« deutlich gemacht.
Nur zu oft, so heißt es in der Leitlinie, ließen sich selbst bei anhaltenden körperlichen Leiden keine einzelnen oder eindeutigen Ursachen feststellen. Überforderung am Arbeitsplatz oder in der Familie, belastende Erinnerungen, Verluste geliebter Personen, Sorgen und Stress – meist seien es mehrere psychische und soziale Auslöser, die zusammenwirken, bis der Körper quasi ein »Stoppsignal« sendet.
Funktionelle Beschwerden würden trotz ihrer Häufigkeit noch zu oft übersehen, kritisieren die Autoren. In vielen Praxen herrsche eine gewisse »Betriebsblindheit« – zumal die sogenannte »sprechende Medizin« stark an Bedeutung verloren habe. Es werde »zu wenig zugehört oder nachgefragt sowie zu oft beziehungsweise falsch untersucht oder behandelt«, beklagen die federführenden Wissenschaftler. Im Rahmen der heute zumeist üblichen »Reparaturmedizin« gehe der Blick für den ganzen Menschen, seine Alltagssorgen und seine Persönlichkeit oftmals verloren.
Da könne es helfen, wenn der Patient selbst Vorbereitungen für einen Arztbesuch trifft, die es ihm erlauben, alles Wichtige konzentriert zu berichten oder zu erfragen. Ein sogenanntes Beschwerdetagebuch mit allen relevanten Fakten könne ebenso wie mitgebrachte Vorbefunde zum Gelingen des Arzt-Patienten-Gespräch beitragen. Die in der Leitlinie aufgezeigte Checkliste »Mein Arztgespräch« kann hier der grundlegenden Orientierung dienen.
Jeder Patient möchte mit seinem ernst genommen werden und sich außerdem vom Praxisteam gut betreut fühlen. Es falle jedoch schwer einzuschätzen, ob eine Arztpraxis diese Erwartungen auch erfüllen kann. Die Checkliste könne helfen, die jeweils passende Praxis zu finden. Die Patienten-Leitlinie bietet daher auch Unterstützung durch Verweis auf die Checkliste »Woran erkennt man eine gute Arztpraxis?«, die von der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bereits vor einigen Jahren herausgegeben wurde.