Wenn Fehler komplett durchrutschen |
Juliane Brüggen |
16.05.2024 14:00 Uhr |
Das Schweizer-Käse-Modell beschreibt, wie Fehler durch Sicherheitsbarrieren (»Löcher«) durchrutschen können. / Foto: Getty Images/christophe papke
Was ist passiert? Die AkdÄ beschreibt den Fall wie folgt: Der Arzt verordnet versehentlich das Präparat Cecenu® (Lomustin) – ein Zytostatikum –, das in der Praxissoftware aufgrund der alphabetischen Sortierung direkt unter dem eigentlich anvisierten Antibiotikum CEC® (Cefaclor) steht. Dieses sollte der Jugendliche aufgrund einer Mandelentzündung erhalten.
In der Apotheke fällt die fehlerhafte Verordnung nicht auf, weil – wie bei Arzneimitteln üblich – keine Diagnose auf dem Rezept steht. Allein die Dosierung, hier mit 1-1-1 angegeben, hätte stutzig machen können, denn das Zytostatikum wird laut Fachinformation nur einmal alle sechs Wochen eingenommen. Hinzu kommt eine Sprachbarriere, die zum einen das Beratungsgespräch erschwert und zum anderen verhindert, dass die Familie den Fehler selbst beim Lesen der Packungsbeilage entdeckt.
So nimmt der Jugendliche über sieben Tage dreimal täglich eine Kapsel Lomustin ein – und damit eine erhebliche Überdosis. Zum Vergleich: laut Fachinformation wären bei einer Dosierung nach Körpergewicht für den Patienten 144 mg Lomustin alle 6 Wochen üblich, der Junge erhielt 800 mg in einer Woche.
Durch den Medikationsfehler entwickeln sich schwerwiegende Symptome. Nach zwei Wochen besucht die Familie erneut den Arzt, da Fieber, Halsschmerzen und Abgeschlagenheit auftreten. Es folgen ein positiver Influenza-Test und eine symptomatische Therapie.
Anschließend treten bei schlechtem Zustand und hohem Fieber zusätzlich Kreislaufkollaps, punktförmige Blutungen in Haut und Schleimhaut (Petechien) sowie Blutblasen im Mund auf. In der Notfallambulanz wird die fälschliche Einnahme von Lomustin nicht bemerkt und trotz der Auffälligkeiten keine Blutbilduntersuchung durchgeführt. Der Patient wird mit der Verdachtsdiagnose Epstein-Barr-Virus an den Hausarzt verwiesen.
Nachdem dieser schließlich die drastischen Veränderungen im Blutbild bemerkt, kommt der Patient in ein Krankenhaus und erhält dort Thrombozyten- und Erythrozyten-Transfusionen sowie medikamentöse Therapien, unter anderem Antibiotika, Virostatika, Antimykotika und Immunglobuline. Bei einer Knochenmarkspunktion stellen die Behandelnden eine komplette Aplasie des Knochenmarks fest. Erst bei der Suche nach möglichen Ursachen der Aplasie kommt das vermeintliche Antibiotikum zur Sprache und der Vater des Jungen zeigt ein Handyfoto von dem eingenommenen Präparat – Cecenu. So schlimm der Fall war, gab es doch ein Happy End: Etwa sieben Wochen nach der Lomustin-Einnahme begann das Knochenmark sich zu regenerieren. Bleibende Organschäden konnten bislang nicht festgestellt werden.
Im Schweizer-Käse-Modell entspricht jede Sicherheitsbarriere – ob menschlicher oder technischer Natur – einer Scheibe Käse. Versagt eine Barriere, entsteht ein Loch, durch das der Fehler durchrutschen kann. Erst wenn die einzelnen Löcher in einer Achse liegen, kann der Fehler komplett hindurch und zu einem unerwünschten Ereignis führen. »Die ›Löcher‹ entstehen durch aktives und latentes Versagen, werden durch beitragende Faktoren beeinflusst und sind außerdem ›dynamisch‹, das heißt sie öffnen, schließen oder verschieben sich über die Zeit«, heißt es dazu im AVP-Artikel.
Angewendet auf den aktuellen Fallbericht haben verschiedene Barrieren versagt und Faktoren dazu beigetragen, dass der Fehler »durchgerutscht« ist und zum unerwünschten Ereignis führte:
Der Fall ist somit eine Erinnerung daran, gewissenhaft die Plausibilität einer Verordnung zu überprüfen und sich nicht von einer Sprachbarriere an der Beratung hindern zu lassen. Dabei können zum Beispiel Übersetzungsprogramme oder Patienteninformationen in der entsprechenden Sprache helfen. Die Autoren regen zudem an, orale Tumortherapeutika auf der Packung als solche zu kennzeichnen und für Lomustin weitere Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, zum Beispiel Schulungsmaterialien zu beauflagen oder eine kleinere Packungsgröße. Auch sollten »Sound alikes« und »Look alikes« bei Arzneimitteln grundsätzlich vermieden werden.
»Von besonderer Relevanz erscheint, Medikationsfehler offen zu diskutieren und im Sinne einer konstruktiven Fehlerkultur darüber zu berichten, um die Arzneimitteltherapiesicherheit und dadurch die Patientensicherheit zu erhöhen«, heißt es abschließend. Bei Apotheken ist die Anlaufstelle hierfür die Arzneimittelkommission Deutscher Apotheker (www.arzneimittelkommission.de).