Wenn Medikamente die Nerven angreifen |
Isabel Weinert |
05.06.2024 08:30 Uhr |
Eine Polyneuropathie beginnt oft in den Extremitäten, etwa mit einem unangenehmen Kribbelgefühl in den Fußsohlen. / Foto: Adobe Stock/koszivu
Unter den Medikamenten, die eine Polyneuropathie auslösen können, haben vor allem Antibiotika aus der Gruppe der Fluorchinolone Aufmerksamkeit in den Medien erlangt. Unter der Medikation kann sich bereits nach wenigen Tagen eine periphere Neuropathie ausprägen, die auch nach Absetzen des Medikaments länger als ein Jahr anhalten kann.
Seit Langem ist diese Nebenwirkung Bestandteil des Beipackzettels in Deutschland. Es ist sinnvoll, Patienten auf diese mögliche Nebenwirkung hinzuweisen und sie aufzufordern, dann direkt mit dem Arzt Rücksprache zu halten, damit das Antibiotikum ausgetauscht werden kann. Die periphere Neuropathie äußert sich in Brennen, Kribbeln, Taubheitsgefühl, Schmerzen, Muskelschwäche oder einer veränderten Empfindlichkeit, wenn man berührt wird oder Kälte/Wärme auf die Haut gelangen.
Wegen möglicher schwerwiegender Nebenwirkungen hat das Toxizitätsmuster der Chinolone und Fluorchinolone mittlerweile eine spezielle Bezeichung – das Fluorquinolone-Associated Disability Syndrom, abgekürzt FQAD. Medikamente dieser Gruppe sollen nur noch als letzte Möglichkeit eingesetzt werden, sie gelten als Reserveantibiotika, wenn nichts anderes mehr hilft.
Ob ein Medikament mit neurotoxischem Potenzial diese Nebenwirkung auslöst, hängt teilweise auch mit der Höhe der Dosis zusammen und damit, wie lange das Medikament eingenommen wird. Bleibt man bei den Antibiotika, dann zeigen weitere bekannte Vertreter neurotoxische Effekte als mögliche Nebenwirkung. Dazu zählen Nitrofurantoin, das speziell zur Therapie sowie zur Prophylaxe von Harnwegsinfektionen zum Einsatz kommt, sowie Penicillin.
Während bei Nitrofurantoin nichts über die Häufigkeit einer möglichen PNP bekannt ist, tritt unter Penicillin eine mögliche Mononeuropathia multiplex sehr selten auf. Bei beiden Medikamenten gilt, sie sofort abzusetzen, wenn sich beim Patienten Symptome für Nervenschädigungen zeigen.
Aminoglycosidantibiotika lösen sehr selten eine PNP aus und können eine Mononeuropathie des Nervus vestibulocochlearis hervorrufen, des Hör- und Gleichgewichtsnervs. Bei Symptomen gehören auch Antibiotika dieser Gruppe direkt abgesetzt. Die Prognose ist gemischt.
Metronidazol hat neben seinen therapeutischen antibiotischen Effekten auch neurotoxische Effekte, die sich vor allem dann zeigen, wenn die Behandlung mit dem Antibiotikum über die maximale Therapiedauer hinaus verlängert wird. Treten Neuropathien unter dem Arzneistoff auf, muss er sofort abgesetzt werden. Die Symptome können darüber hinaus lange bestehen bleiben.
Das Tuberkulostatikum Isoniazid bringt häufig eine PNP mit sich, weil es in den Vitamin-B6-Stoffwechsel des Menschen eingreift. Deshalb kommt es ausschließlich in Kombination mit einer adäquaten Dosis Vitamin B6 zum Einsatz.
Eine weitere Gruppe, bei der eine Polyneuropathie als Nebenwirkung lange Zeit angenommen wurde, wenn auch nur in seltenen bis sehr seltenen Fällen, ist diejenige der Statine. Die Daten hierzu sind uneinheitlich. Eine jüngere Studie räumte den Verdacht auf diese Nebenwirkung zumindest in dieser Untersuchung aus. Die dänischen Wissenschaftler hatten Menschen mit einem erhöhten Risiko für eine Polyneuropathie oder mit einer bereits vorhandenen PNP allerdings aus der Studie ausgenommen, sodass keine Aussage darüber getroffen werden kann, ob Statine das PNP-Risiko bei vorbelasteten Patienten erhöhen könnten.
Auch bei einem der wichtigsten Antiarrhythmika, dem Amiodaron, können sich als Nebenwirkung Symptome einer Polyneuropathie zeigen. In den 80er-Jahren ging man allerdings von einer höheren Inzidenz neurologischer Störungen aus als heute. Das Risiko für diese Nebenwirkung hängt von der Therapiedauer ab. Zeigen sich Symptome einer PNP, so sind diese nach Absetzen reversibel, aber auch bereits eine Dosisreduktion kann Linderung bringen.
Verschiedene Chemotherapeutika bringen ein großes Risiko für Nervenschädigungen mit sich, darunter Vincaalkaloide, Taxane und Platinverbindungen. Ob eine Dosisreduktion zur Schmälerung der neurotoxischen Wirkungen möglich ist, muss genau mit dem behandelnden Arzt abgesprochen werden, damit keinesfalls die Wirksamkeit sinkt.
Der bekannteste Mangel, der eine Neuropathie mit sich bringen kann, ist derjenige an Vitamin B12. Das Vitamin wird nur von Bakterien, Pilzen und Algen gebildet und gelangt auf diese Weise mit der Nahrung in den Körper. Hier fungiert es als Coenzym, das am Fett- und Aminosäurestoffwechsel mitwirkt und für eine normale Blutbildung sowie DNA-Synthese gebraucht wird. Weil der Organismus das Vitamin speichern kann, macht sich ein Mangel erst bemerkbar, wenn die Speicher entleert sind. Das kann drei bis fünf Jahre dauern.
Die Symptome eines B12-Mangels sind zum Beispiel Müdigkeit, Kraftlosigkeit, eine sogenannte perniziöse Anämie und eine Neuropathie. Sie sind nicht selten, fehlt doch in Deutschland jedem Zehnten ausreichend Vitamin B12, ab dem 65. Lebensjahr trifft es gar jeden Vierten.
Der Anstieg im Alter lässt sich auf einen zunehmenden Mangel an Intrinsic Factor zurückführen, eines Proteins, das mit dem aus der nahrung aufgenommenen Vitamin B12 einen Komplex bildet und damit den Transport in den Organismus ermöglicht. Auch Antidiabetika, ein Überschuss an Magensäure, der tägliche Konsum von Alkohol sowie eine streng vegetarische oder vegane Ernährung leisten einem Mangel am Vitamin Vorschub. Ebenso sind häufiger Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen betroffen.
Nervenschäden durch zu wenig Vitamin B12 können sich in einem Kribbeln in den Extremitäten äußern, in Muskelschwäche, Müdigkeit, einem verringerten Konzentrationsvermögen, einer brennenden Zunge. Menschen mit Neuropathie haben aber auch ein erhöhtes Risiko zu stürzen, ihr Gang wird unsicherer. Mit der richtigen Ernährung lässt sich eine gute Versorgung mit Vitamin B12 eigentlich gewährleisten.
Das gilt jedoch nicht für Menschen mit einem Mangel an Intrinsic Factor – hier muss das Vitamin injiziert werden, und nicht für Menschen mit veganer Ernährung. Sie und auch Vegetarier sollten sich Vitamin B12 zuführen. Die Diagnose für einen Mangel stellt der Arzt. Bei der Wahl eines geeigneten Vitaminpräparats ist darauf zu achten, dass die Vitamindosis die Empfehlungen des Bundesinstituts für Risikoberwertung (BfR) nicht weit übersteigt. Das BfR nennt einen Tagesbedarf von 25 Mikrogramm. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung nennt vier Mikrogramm als tägliche Gesamtmenge aus Nahrung und Nahrungsergänzung. Wer dauerhaft die angegebenen Mengen deutlich überschreitet, riskiert mögliche Nebenwirkungen des Vitamins.
Eine Polyneuropathie kann Hunderte verschiedener Ursachen haben. Für PTA ist es wichtig, auch an die rareren Gründe zu denken, wie Medikamente oder fehlendes Vitamin B12. Gerade bei Menschen mit einer Erkrankung, die häufig eine PNP verursacht, wie Diabetes, sollten PTA hellhörig werden, wenn der Arzt ein Medikament verordnet, dass das Risiko einer PNP als Nebenwirkung birgt. Dann kann sich die Nachfrage beim Arzt lohnen, ob ein Austausch gewünscht ist. Umgekehrt: Schildern Patienten Symptome, die auf eine PNP hindeuten, dann sind wahrscheinliche Ursachen ein lange Zeit nicht erkannter Prädiabetes, eine manifeste Diabeteserkrankung, aber mitunter eben auch Medikamente.
Bei Diabetikern mit hohen Blutzuckerwerten kann bei einer raschen Senkung hin zu normalen Werten eine sogenannte »treatment-induced neuropathy of diabetes« (TNP) eintreten. Bei dieser durch die Therapie ausgelöste oder deutlich verschlimmerten bereits vorhandenen Neuropathie entwickeln sich die Symptome subakut und zeigen sich in brennenden und einschießenden Schmerzen, das Temperaturempfinden kann sich verändern. Das Syndrom geht manchmal mit einer ausgeprägten orthostatischen Hypotonie einher. Gerade bei einer beginnenden Insulinbehandlung müssen Ärzte und Patienten deshalb darauf achten, den Blutzucker-Langzeitwert HbA1c gemächlich über einen längeren Zeitraum in den Normalbereich zu senken.