Wenn Muskeln Mangelware werden |
Dem Muskelschwund im Alter vorbeugen: Das gelingt vor allem mit Krafttraining und eiweißreicher Ernährung. / Foto: Getty Images/shapecharge
Dass die Muskulatur entscheidend für die Leistungsfähigkeit ist, weiß jeder sportlich aktive Mensch: Wie schnell wir laufen, wie weit wir springen oder welches Gewicht wir stemmen können, hängt von der Funktionalität unserer Muskeln ab. In welch hohem Ausmaß die Muskelkraft darüber hinaus über die Gesundheit und Lebensqualität bestimmt, merken die meisten Menschen erst, wenn sie schwindet. Schon normale Alltagsbewegungen können dann die Leistungsfähigkeit überschreiten; im Extremfall fällt selbst das Atmen schwer.
Bereits im jungen Erwachsenenalter beginnt ein schleichender Abbau von Muskelmasse und -kraft. Das gehört zum normalen Alterungsprozess. Ab dem 30. Lebensjahr nimmt die Muskelmasse jährlich ungefähr 1 Prozent ab. Noch deutlicher verringert sich die Muskelfunktion: Bis zu 4 Prozent beträgt der jährliche Verlust an Muskelkraft. Weil der Muskelabbau besonders die schnell kontrahierenden Fasern betrifft, geht die Schnellkraft doppelt so rasch zurück wie die Maximalkraft. In welchem Tempo dieser Prozess voranschreitet, hängt unter anderem von der körperlichen Aktivität, der Ernährung, hormonellen Faktoren und unterschwelligen entzündlichen Vorgängen ab.
Übersteigt der Muskelabbau das normale, altersbedingte Maß und führt zu deutlichen funktionellen Einschränkungen, sprechen Mediziner von einer Sarkopenie. Sie ist die mit Abstand häufigste Muskelschwunderkrankung. Andere Ursachen für eine Muskelatrophie, also für den Verlust von Muskelmasse, können beispielsweise die Ruhigstellung einer Gliedmaße nach einer Verletzung, eine Nervenschädigung oder eine Autoimmunerkrankung sein. Der Begriff Muskeldystrophie bezeichnet dagegen eine Gruppe von erblichen Erkrankungen, bei denen der Muskelaufbau und die Muskelfunktion beeinträchtigt sind. Sie machen sich oft schon in der frühen Kindheit oder Jugend bemerkbar.
Je nach Erkrankungsalter und -ursache kann sich Muskelschwund durch unterschiedliche Symptome äußern. Bei Kindern fallen zum Beispiel untypische Bewegungsmuster und Entwicklungsverzögerungen auf. Ältere Menschen bemerken dagegen eher ein allgemeines Schwächegefühl, eine Verlangsamung des Gangs oder Greifschwierigkeiten. Die Betroffenen stolpern oder stürzen häufiger und haben Schwierigkeiten, selbständig wieder aufzustehen. Auf den ersten Blick sichtbar ist der Muskelschwund selten: Gerade bei älteren Menschen wird der Rückgang der Muskelmasse meistens durch einen wachsenden Fettanteil überdeckt.
An Sarkopenie leiden – je nach Studie und den verwendeten Diagnosekriterien – zwischen 10 und 50 Prozent der über 80-Jährigen. Der heute übliche Fachbegriff für übermäßigen altersbedingten Muskelschwund wurde erst Ende der 1980er Jahre eingeführt. Anfangs bezeichnete er lediglich einen Mangel an Muskelmasse. In der aktuellen europäischen Konsensus-Definition steht dagegen die eingeschränkte Muskelkraft als Hauptmerkmal im Vordergrund. Seit 2016 ist die Sarkopenie als eigenständige Erkrankung im internationalen Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen (ICD-10, International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) gelistet; 2018 erhielt sie auch in Deutschland eine eigene Abrechnungsziffer für die ärztliche Vergütung.
Doch noch immer wird die Diagnose Muskelschwund bei älteren Menschen nach Meinung von Experten viel zu selten gestellt. Die europäische Sarkopenie-Arbeitsgruppe empfiehlt deshalb, bei Verdachtsmomenten wie häufigen Stürzen, körperlicher Schwäche, Verlangsamung und Gangunsicherheiten nach einer möglichen Sarkopenie zu fahnden. Zu diesem Zweck entwickelte sie einen einfachen Fragebogen, anhand dessen sich der Zustand der Muskulatur abschätzen lässt (siehe Kasten).
Der Arzt oder die Ärztin kann die Muskelstärke durch eine Messung der Handkraft mit einem Dynamometer oder durch den Aufstehtest aus dem Sitzen (Chair rising test) ermitteln. Für die Diagnose der Sarkopenie ist außerdem eine Bestimmung der Muskelmasse erforderlich, die meist mit der von der Knochendichtemessung bekannten DXA-Methode erfolgt. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen ist die Sarkopenie von einer Kachexie, bei der sowohl die Skelettmuskulatur als auch das Fettgewebe reduziert sind.
Bleibt der Muskelschwund unbemerkt, wirkt sich das nicht nur auf die Lebensqualität, sondern auch auf die Lebenserwartung der Betroffenen aus. Wie mehrere Studien belegen, erhöht eine Sarkopenie das Risiko für Stürze und Krankenhausaufenthalte, fördert Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen und führt oft zum Verlust der Mobilität und der Selbständigkeit. Das Sterberisiko steigt auf das nahezu Vierfache.
Neben dem natürlichen Alterungsprozess tragen vor allem zwei Faktoren zur Entwicklung einer Sarkopenie bei: Bewegungsmangel und Ernährungsdefizite. Für den Aufbau und Erhalt der Muskulatur braucht der Körper hauptsächlich Proteine. Mit zunehmendem Alter sinkt die Fähigkeit der Muskelzellen, Eiweiß in Muskelmasse umzuwandeln. Deshalb benötigen Senioren einen höheren Eiweißanteil in der Nahrung. Weil aber der Kalorienbedarf und oft auch der Appetit sinken, nehmen ältere Menschen meist insgesamt zu wenig Proteine zu sich.
Wie gut der Organismus das aufgenommene Eiweiß in Muskelmasse umsetzen kann, ist wiederum von der körperlichen Aktivität abhängig. Studien zeigen beispielsweise, dass bei gesunden 80-Jährigen bereits eine zehntägige Bettruhe zu einem 30-prozentigen Rückgang der muskulären Proteinbiosynthese führt. Die Muskelmasse sank dadurch um 10 Prozent, die Muskelkraft um 16 Prozent.
Auch hormonelle Veränderungen im Alter können einer Sarkopenie Vorschub leisten. Bei Frauen erschwert der Estrogenrückgang nach der Menopause den Muskelaufbau; bei Männern trägt ein allmählich sinkender Testosteronspiegel zur Abnahme der Muskelmasse bei. Schwere Erkrankungen wie Krebs, eine HIV-Infektion und chronische Herz- oder Lungenleiden erhöhen das Risiko einer Sarkopenie auch bei jüngeren Patienten. Dazu kommen genetische Einflüsse, die Schätzungen zufolge etwa 30 Prozent der Varianz der Muskelmasse und -kraft ausmachen.
Die wichtigste Maßnahme, um altersbedingtem Muskelschwund entgegenzuwirken, ist eine Kombination aus eiweißreicher Ernährung und körperlicher Aktivität. Professionell angeleitetes Krafttraining hilft dabei besser als Ausdauersport – zur Vorbeugung ebenso wie zur Therapie einer bereits bestehenden Sarkopenie. Selbst im hohen Alter können Senioren dadurch noch ein Zugewinn an Kraft und Funktionalität erreichen. Um das Sturzrisiko zu verringern, hat sich ein zusätzliches Gleichgewichtstraining als sinnvoll erwiesen.
Die europäische Sarkopenie-Arbeitsgruppe empfiehlt älteren, nierengesunden Menschen eine tägliche Proteinzufuhr von 1,2 g pro kg Körpergewicht. Das entspricht etwa 300 g Lachsfilet oder 250 g Hähnchenbrust bei einem normalgewichtigen Senior. Auch Hülsenfrüchte, Nüsse, Eier und Milchprodukte sind gute Eiweißlieferanten. In manchen Fällen rät der Arzt ergänzend zu einer Zusatz- oder Trinknahrung. Einzelne Studien lieferten Hinweise, dass sich eine gezielte Zufuhr der Aminosäure Leucin sowie von Kreatin, Omega-3-Fettsäuren und Vitamin D positiv auf den Muskelaufbau auswirken kann. Für konkrete Empfehlungen reicht die Datenlage jedoch nicht aus.
Medikamente sind zur Therapie der Sarkopenie bislang nicht zugelassen. Bei Männern mit einem nachgewiesenen Mangel können Ärzte Testosteron verordnen, um den Muskelaufbau zu unterstützen. Noch in der klinischen Entwicklung befinden sich mehrere Hemmstoffe von Myostatin – einem körpereigenen Botenstoff, der das Muskelwachstum bremst. In diese Substanzklasse gehört beispielsweise der monoklonale Antikörper Bimagrumab, der in klinischen Studien bereits erfolgreich bei Senioren zum Muskelaufbau nach einem Schenkelhalsbruch eingesetzt wurde.
Bei jüngeren Menschen ist Muskelschwund eine seltene Erkrankung. Oft liegt die Ursache dann im Nervensystem: Wenn die Muskelzellen von den sogenannten Motoneuronen nicht die richtigen Signale erhalten, können sie sich nicht bewegen und verkümmern. Das kann zum Beispiel nach einer Rückenmarksverletzung passieren.
Manchmal ist auch eine Autoimmunerkrankung schuld: Bei Myasthenia gravis bildet das Immunsystem Antikörper gegen Neurotransmitter-Rezeptoren, die für die Reizübertragung vom Nerv auf den Muskel notwendig sind. Dadurch kann die Muskulatur nicht mehr richtig angesteuert werden und ermüdet sehr schnell. Zu Beginn äußert sich die Erkrankung oft durch Sehstörungen und Lidschwäche am Abend oder nach Anstrengung. Meist ist eine Körperseite stärker betroffen als die andere, auch die beteiligten Muskeln können variieren. Typisch ist, dass sich die Beschwerden nach einer Ruhephase wieder bessern.
An Myasthenia gravis leidet etwa eine von 10.000 Personen. Frauen erkranken in der Regel ab etwa 20 Jahren, Männer etwas später und meist weniger stark. Die Behandlung erfolgt oft mit Corticosteroiden und/ oder Immunsuppressiva wie Azathioprin. Spezielle Medikamente (Pyridostigmin, Prostigmin) können den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin bremsen und die Nervenimpulse verstärken. Neu ist das Immunsuppressivum Efgartigimod alfa (Vyvgart®), ein Antikörperfragment, welches den Abbau von speziellen Autoantikörpern bei Myathenia gravis ermöglicht.
Noch seltener, bei ein bis zwei von 100.000 Menschen, tritt die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) auf. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung von motorischen Nervenzellen im Rückenmark und ihren Fortsätzen zur Muskulatur. Sie kann sich in unwillkürlichen Zuckungen, Krämpfen und Muskelschwund äußern. Anfangs ist oft zum Beispiel nur eine Hand betroffen, später breitet sich die Schwäche auf Arme und Beine und schließlich die Atemmuskulatur aus. Auch die Sprach-, Schluck- und Kaufähigkeit können leiden. ALS beginnt meist im mittleren Lebensalter. Zur neuroprotektiven Therapie steht in Europa die glutamathemmende Substanz Riluzol (Rilutek®) zur Verfügung.
Macht sich Muskelschwund bereits in der Kindheit bemerkbar, ist er praktisch immer erblich bedingt. Inzwischen sind mehrere hundert Gendefekte bekannt, die zu einem stetigen Verlust von Muskelmasse führen. Viele verkürzen die Lebenserwartung drastisch, weil mit zunehmendem Krankheitsfortschritt auch die Atem- und Herzmuskulatur beeinträchtigt werden.
Die häufigste Form ist die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD), die bei einem von 3500 bis 6000 Neugeborenen auftritt. Sie entsteht durch eine Mutation im Dystrophin-Gen, das auf dem X-Chromosom liegt. Weil die Erkrankung rezessiv vererbt wird – der Defekt also durch ein gesundes Chromosom ausgeglichen werden kann –, sind praktisch ausschließlich Jungen betroffen. Der Eiweißstoff Dystrophin ist für die Stabilität und Struktur der Muskelfasern verantwortlich. Ist er fehlerhaft oder fehlt ganz, wandelt sich Muskelmasse nach und nach in Fett- und Bindegewebe um. Bei den meisten Kindern macht sich die Muskelschwäche ab dem Alter von zwei bis drei Jahren zunehmend bemerkbar. Oft sind DMD-Patienten bereits vor der Pubertät auf einen Rollstuhl angewiesen. Später benötigen sie eine Atemunterstützung. Die Lebenserwartung liegt bei 20 bis 40 Jahren.
Neben Corticosteroiden trägt vor allem eine intensive Physiotherapie dazu bei, schwerwiegende Komplikationen hinauszuzögern. Bei etwa 10 bis 15 Prozent der Patienten, bei denen eine sogenannte Nonsense-Mutation im Dystrophin-Gen vorliegt, kann der 2014 zugelassene Wirkstoff Ataluren (Translarna®) den Muskelschwund bremsen: Er mach die Mutation für den Körper quasi unsichtbar und ermöglicht dadurch eine korrekte Produktion des Proteins.
Neue, vielversprechende Therapieansätze gibt es bei der spinalen Muskelatrophie (SMA). Sie betrifft etwa eines von 6000 bis 10.000 Neugeborenen. Krankheitsursache ist ein Gendefekt, der die Motoneuronen im sogenannten Vorderhorn des Rückenmarks nach und nach zugrunde gehen lässt. Dadurch können Bewegungssignale nicht mehr an die Muskulatur weitergeleitet werden. Unbehandelt sterben die meisten Kinder im Alter von ein bis zwei Jahren. Die Erkrankung bricht nur aus, wenn der Nachwuchs von beiden Elternteilen jeweils ein defektes Gen erhält (autosomal-rezessiver Erbgang). Etwa eine von 45 Personen trägt neben einer normalen eine fehlerhafte Kopie des Gens und kann dadurch SMA vererben, ohne selbst erkrankt zu sein.
Seit Oktober 2021 ist das SMA-Screening Bestandteil der regulären Früherkennungsuntersuchungen bei Neugeborenen. Wird die Erkrankung in den ersten Lebenstagen diagnostiziert, kann der Muskelschwund heute durch eine Genersatztherapie gestoppt werden. Seit 2020 ist dafür in Europa der Wirkstoff Onasemnogen-Abeparvovec (Zolgensma®) zugelassen: Über ein modifiziertes Virus schleust er eine intakte Kopie des defekten Gens intravenös in die Blutbahn und die Nervenzellen ein. Auf diese Weise wurden in Deutschland bereits mehrere hundert Kinder erfolgreich behandelt. Ob das Ersatzgen wie erhofft lebenslang aktiv bleibt, weiß man aber noch nicht; Langzeitergebnisse fehlen bisher.
Nach einem ähnlichen Prinzip wirkt das 2017 zugelassene Medikament Nusinersen (Spinraza®), das die fehlerhafte Erbinformation durch ein verwandtes Gen ersetzen soll. Es muss alle vier Monate direkt in den Hirnwasserraum injiziert werden. Im April 2021 kam mit Risdiplam (Evrysdi®) ein weiteres, nach dem gleichen Prinzip funktionierendes Medikament auf den Markt, das täglich als Saft verabreicht wird. Alle drei Formen der Gentherapie scheinen den Muskelschwund bei SMA wirksam verhindern zu können. Eine bereits bestehende Muskelschwäche machen sie jedoch nicht rückgängig.
Wie viel darf ein (lebensrettendes) Medikament kosten? Eine Frage, die häufig emotional diskutiert wird. Das Gentherapeutikum Zolgensma machte bereits vor seiner Zulassung Schlagzeilen als teuerstes Medikament aller Zeiten. Knapp zwei Millionen Euro kostet eine Spritze – es muss allerdings auch nur eine einzige angewendet werden, um das Leben der betroffenen Kinder deutlich zu verlängern. Das sieht Hersteller Novartis als großen Vorteil an: Spinraza von Biogen muss alle vier Monate ins Rückenmark gespritzt werden – die Therapie kostet im ersten Jahr rund 400.000 Euro, in den folgenden Jahren jeweils knapp 300.000 Euro. Evryidi von Roche wird täglich eingenommen, die Kosten pro Jahr belaufen sich ebenfalls auf etwa 300.000 Euro.