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Dem Übergewicht auf der Spur

Wie das Gehirn unser Essverhalten manipuliert

Beim Essverhalten machen Kopf und Körper gemeinsame Sache. Doch wie genau wirkt das Gehirn auf den Stoffwechsel ein? Dieser Frage hat sich eine Arbeitsgruppe um den Neurowissenschaftler Marc Tittgemeyer am Max-Planck-Institut gewidmet – mit der interessanten Schlussfolgerung, dass Übergewicht eher nichts mit Willensschwäche oder fehlender Disziplin zu tun hat.
Katja Egermeier
19.11.2024  10:00 Uhr

Gegenwärtig sind sechsmal mehr Menschen fettleibig als noch vor 50 Jahren. In den OECD-Ländern, zu denen auch Deutschland gehört, gilt das sogar für knapp die Hälfte der Erwachsenen und für jedes sechste Kind – Tendenz steigend. Doch wie und warum hat sich unser Essverhalten verändert? Und warum ist es so schwer, bestehende Essgewohnheiten wieder zu ändern?

Signale sorgen für Hunger und Sättigung, aber auch für Essen im Übermaß

Grundsätzlich strebe der Körper eine Balance im Stoffwechsel an, sodass Blutzucker, Sauerstoffsättigung und andere Werte nicht übermäßig schwanken, erklärt der Stoffwechselexperte Tittgemeyer. Körper und Gehirn kommunizierten dabei über eine Vielzahl elektrischer und chemischer Signale. Das können druckempfindliche Zellen im Magen sein, die für das Sättigungsgefühl sorgen. Aber auch Signale, die den Körper drängen, Reserven zu bilden und mehr Kalorien aufzunehmen als eigentlich nötig.

Dabei funktioniert unser Organismus nicht anders als der unserer Vorfahren, die häufig Zeiten des Mangels durchleben mussten. Darauf habe sich unser Stoffwechsel im Laufe der Evolution eingestellt: »Wenn dann mal Nahrung im Überfluss vorhanden ist, sollte man sich den Bauch vollschlagen, um für magere Zeiten gewappnet zu sein«, so Tittgemeyer. Deshalb könne es vorkommen, dass das Sättigungsgefühl trotz vollem Magen von dem Signal Reserven anzulegen überschrieben werde.

Menschen essen nicht mehr, nur anders

Zu dem Grund für die drastische Zunahme von übergewichtigen Menschen gebe es viele Vermutungen: vom Wegfall körperlicher Arbeit bis hin zur These, dass wir heute mehr essen als früher. Inzwischen wisse man: Wir essen nicht unbedingt mehr, aber anders als früher. Für Tittgemeyer sind vor allem Fertigprodukte, Süßstoffe und die Kombination von Zucker und Fett die maßgeblichen Auslöser.

Denn Fertigprodukte tricksen die Hungersignale des Körpers aus, und das gleich mehrfach. Sie vereinen viele Kalorien auf wenig Masse. 100 g Fertigpizza beispielsweise enthalten etwa fünfmal so viele Kilokalorien wie 100 g Apfel. Das Problem: Die Sensoren im Verdauungstrakt reagieren nur auf Druck und nicht auf den Kaloriengehalt. Sie können also nicht zwischen Apfel und Pizza unterscheiden und kein Signal senden, dass bei kalorienhaltigen Speisen eine kleinere Portion angesagt wäre. Fertigprodukte enthalten zudem meist viel Protein, Zucker und Fett. Das aktiviere das Belohnungssystem über mehrere Signalwege gleichzeitig. Die positiven Reize potenzierten sich und würden entsprechend stark empfunden, so der Experte.

Auch beim Konsum von Süßstoffen, die eigentlich Kalorien einsparen sollen, macht uns der Körper einen Strich durch die Rechnung. Hier greife das innere Kalorienvorhersageprogramm, wie Tittgemeyer es beschreibt. »Wenn der Körper an Kaffee mit Zucker gewöhnt ist, erwartet er eine gewisse Kalorienmenge. Also bereitet er sich darauf vor und erhöht zum Beispiel den Insulinspiegel.« Kommt dann aber kein Zucker, reagiere der Körper mit Hunger. Es könne also passieren, dass Süßstoffe den Kalorienkonsum in die Höhe treiben.

Dopamin-Kick durch Essen

Auch die Kombination von Zucker und Fett löse Belohnungsreize aus, denen wir kaum widerstehen können. Während es in der Natur nur wenige Nahrungsmittel gibt, die Fett und Zucker zugleich und in großen Mengen enthalten, ist dieses Nährstoffduo in modernen Lebensmitteln häufig zu finden. Beispielsweise in Eis, Butternudeln, Gebäck oder Sahnetorte. Beide Bestandteile, sowohl Fett als auch Zucker, sendeten Signale direkt an den Ort der Belohnungsverarbeitung und sorgten dort für eine »unerhörte« Wirkung, so Tittgemeyer.

»Zucker- oder fetthaltige Nahrungsmittel bewirken im Mittelhirn die Ausschüttung von Dopamin. Wenn ein Lebensmittel beides zugleich enthält, potenziert sich dieser Effekt.« Man nenne es auch superadditiv. Oder anders ausgedrückt: »Nudeln oder Sahnesauce allein machen unser Gehirn also glücklich, doch Nudeln in Sahnesauce versetzen es regelrecht in Euphorie.« Er hält es für möglich, dass unser erstes und evolutionär wichtigstes Nahrungsmittel – die Muttermilch – für diese Empfänglichkeit verantwortlich sein könnte. Sie ist eines der wenigen natürlichen Nahrungsmittel, die Zucker und Fett zugleich in großen Mengen enthalten.

»Je mehr ich darüber lerne, desto besser verstehe ich, dass Übergewicht nichts mit Willensschwäche oder fehlender Disziplin zu tun hat.«
Marc Tittgemeyer, Neurowissenschaftler und Stoffwechselexperte am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung

Was wir heute essen, beeinflusst, wonach wir morgen greifen

Diese Belohnungsreaktionen führten in einen Teufelskreis. Denn das Essen von heute beeinflusst unsere Vorlieben von morgen und umgekehrt. Das haben die Forschenden an Probanden mithilfe eines Positronen-Emissions-Tomografen und der Verabreichung von fett- und zuckerreichen Milchshakes herausgefunden. Hier sorgte schon der erste Schluck eines fett- und zuckerreichen Milchshakes für einen Dopamin-Kick – und dieser wiederholte sich eine Viertelstunde später, als der Magen begann, den Shake zu verdauen. »Das Signal aus dem Magen läuft dabei über Nervenzellnetzwerke im Gehirn, die Motivation und Lernverhalten steuern. Sie verknüpfen den Milchshake mit Belohnung und schaffen so die Voraussetzung dafür, dass wir beim nächsten Mal wieder zu solch einem Shake greifen.«

Das konnten die Kölner Forschenden in einem zweiten Experiment bestätigen. Darin gaben sie den Probanden täglich eine halbe Tasse fett- und zuckerreichen Pudding. Nach acht Wochen hatte sich zwar weder ihr Körpergewicht noch ihr Stoffwechsel verändert, doch ihre Vorliebe für fetthaltige Speisen war gestiegen. Die Forschenden schließen daraus, dass wiederholter Genuss von fett- und zuckerreichen Lebensmitteln zu einer Neuverdrahtung der Nervenzellwerke im Gehirn führen kann.

»Es ist der Körper, der uns das Essen diktiert.«
Marc Tittgemeyer, Neurowissenschaftler und Stoffwechselexperte am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung

Pudding verändert die Lernweise

Die Forschenden stellten zudem fest, dass die Puddinggruppe nach den acht Wochen anders lernte als die Vergleichsgruppe. Zu einem geistigen Abbau führe diese Ernährung nicht, so Tittgemeyer, aber es ändere die Art und Weise, wie Menschen lernen. Die Entwicklung neuer Nahrungsmittelpräferenzen geschehe im Hirnstamm, einem der ältesten Teile des Gehirns. Veränderungen dort beeinflussen das gesamte Empfinden und Verhalten eines Menschen.

»In Experimenten mit Mäusen hat sich aber gezeigt, dass Essgewohnheiten nicht in Stein gemeißelt sind«, so Tittgemeyer. Hielten die Tiere über einen längeren Zeitraum eine Niedrigfettdiät durch, klappte auch die Umstellung auf eine fettarme Ernährung. Es sei jedoch noch nicht erforscht, wie lange ein Mensch eine solche Diät machen müsste.

Übergewicht regulieren mit Medikamenten?

Seit etwa eineinhalb Jahren ist Wegovy, ein Medikament zur Gewichtsreduktion, auf dem deutschen Markt. Es zügelt den Appetit und steigert das Sättigungsgefühl. Trotz diverser Nebenwirkungen des verschreibungspflichtigen Medikaments ist die Nachfrage groß. Der Wirkstoff Semaglutid wird schon seit längerem zur Behandlung von Typ-2-Diabetes genutzt – unter dem Handelsnamen Ozempic®.

Ein solcher Wirkstoff wirke ebenfalls auf das Belohnungssystem im Gehirn, so Tittgemeyer. Er glaube jedoch nicht, dass sich Übergewicht allein mit Medikamenten in den Griff bekommen lasse. »Ohne Verhaltensänderungen und Anpassung der Ernährungsgewohnheiten wird es nicht gehen.« Jedoch sei es außerordentlich schwer, sich gegen seine Gewohnheiten zu wehren, wenn der Stoffwechsel erst einmal entgleist ist: »Es ist der Körper, der uns das Essen diktiert.« Wer also wider besseres Wissens zum Schokopudding statt zum Salat greife, dürfe sich bei seinem dopaminsüchtigen Mittelhirn bedanken. 

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