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Ernährungsarmut in Deutschland

Zu wenig Geld für Essen

Was kommt Ende des Monats auf meinen Teller? Diese Frage müssen sich rund drei Millionen Menschen hierzulande regelmäßig stellen. Obwohl Deutschland zu den reichsten Ländern der Welt gehört, sind sie von Ernährungsarmut betroffen. PTA-Forum hat mit Experten über das wachsende Problem gesprochen.
Katrin Faßnacht-Lee
04.02.2025  08:30 Uhr

Deutschland hat ein Problem: Knapp 15 Prozent der Bevölkerung sind armutsgefährdet. Alleinerziehende sowie kinderreiche Familien weisen ein besonders hohes Risiko auf. Ein aktueller Aspekt dieser Statistik, der besonders während der Pandemie zutage trat, ist die Ernährungsarmut. »Das bedeutet, dass eine gesundheitsfördernde Ernährung aus finanziellen Gründen nicht sichergestellt werden kann«, fasst Professor Dr. Jakob Linseisen vom Lehrstuhl für Epidemiologie an der Universität Augsburg den Begriff zusammen. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (WBAE), der bereits 2023 dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) eine Stellungnahme zu »Ernährungsarmut unter Pandemiebedingungen« vorgelegt hat. Doch das Problem dauert an.

Steigende Lebensmittelpreise verschärfen die Situation für viele Menschen. So ist der Preis für Wurstwaren und Gemüse seit 2020 um rund 25 bis 30 Prozent, von Schnittkäse um 50 Prozent und von Weizenmehl um 70 Prozent gestiegen. Genaue Zahlen zur Ernährungsarmut in Deutschland fehlen jedoch. »Wir gehen davon aus, dass etwa 3,2 Prozent der deutschen Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen ist, das entspricht in etwa drei Millionen Menschen«, erklärt Dr. Anja Simmet vom Fachgebiet Angewandte Ernährungspsychologie der Universität Hohenheim und bezieht sich auf eine Schätzung der Food Agriculture Organization der Vereinten Nationen. Ernährungsunsicherheit und Ernährungsarmut seien konkurrierende Begriffe. Bei beiden Begriffen spielt jedoch der eingeschränkte finanzielle Zugang zu Lebensmitteln eine zentrale Rolle.

Wenig Essen, wenig Teilhabe

Wie ein erhöhtes Armutsrisiko den Ernährungs- und Gesundheitszustand von Familien beeinflusst, wurde in Deutschland bisher kaum erforscht. Einen wertvollen Beitrag lieferte jedoch die sogenannte MEGA_kids-Studie, zu deren Autoren Simmet gehört. Die jetzt im 15. Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) veröffentlichte Studie kombinierte eine quantitative Befragung von Haushalten mit Kindern mit zwei vertiefenden qualitativen Befragungen Erwachsener. Einbezogen wurden 500 armutsgefährdete Haushalte, von denen 19 Prozent von moderater und 3,2 Prozent von starker Ernährungsunsicherheit betroffen waren. Letzteres bedeutet laut Simmet: »Der Zugang dieser Menschen zu ausreichenden, nährstoffreichen und sicheren Lebensmitteln ist so stark eingeschränkt, dass sie zumindest zweitweise auf Mahlzeiten verzichten oder den ganzen Tag nichts essen und Hunger leiden.« Die Studienpopulation, räumt die Forscherin ein, sei für Deutschland nicht ganz repräsentativ. Rund 45 Prozent der teilnehmenden Elternteile lebten zum Befragungszeitpunkt weniger als ein Jahr in Deutschland; ein Großteil dieser (88 Prozent) kam aus der Ukraine. Aber auch andere Studien beobachten ähnliche Tendenzen. Wie groß die Not ist, zeigt außerdem die stetige Nachfrage nach karitativen Angeboten wie den Tafeln, die in den vergangenen Jahren geradezu explodiert ist (siehe Kasten).

Die moderate Ernährungsunsicherheit, die laut Studie immerhin jeden fünften armutsgefährdeten Haushalt betrifft, hat andere, aber ebenso gravierende Auswirkungen. »Das fängt damit an, dass sich Betroffene zumindest Sorgen darum machen, dass das Essen ausgeht. Im nächsten Schritt wird zunächst die Varietät oder die Qualität von Lebensmitteln eingeschränkt«, beschreibt Simmet. »Die Familien haben zum Beispiel berichtet, dass es dauerhaft oder am Ende des Monats nur noch Spaghetti mit Tomatensoße gibt oder als Brotbelag nur Marmelade. Zeitweise essen sie zumindest weniger als sie normalerweise essen würden, weil das Geld nicht reicht.«

Ein weiteres Problem sind soziale Aspekte der Ernährung. So gaben 36 Prozent der befragten Eltern an, dass sie sich für ihre Ernährungssituation schämen. Insgesamt seien die Teilhabechancen eingeschränkt. Das könne etwa bedeuten, dass man sich auswärts keine Tasse Kaffee leisten kann, erklärt Simmet. »Kinder dürfen ihre Freunde nicht mit nach Hause bringen, weil man außer Leitungswasser nichts anbieten kann. Alternativ verzichten Betroffene auf Vereinsmitgliedschaften oder Klassenfahrten, um ihre Ernährung sichern zu können.« Ein schwieriger Zustand. Denn Essen ist nicht nur für die körperliche Gesundheit von Bedeutung, sondern auch zentral für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden sowie für die soziale Zugehörigkeit.

Folgen von Fehlernährung

All diese Auswirkungen von Ernährungsarmut sind bekannt, in Deutschland aber nicht ausreichend durch Studien quantifizierbar. Das gilt auch für die konkreten Folgen, die eine mangelhafte Ernährung auf die Gesundheitssituation der Betroffenen hat. Untersuchungen, bei denen der sozioökonomische Status berücksichtigt wurde, zeigten laut Linseisen jedoch deutlich einen Zusammenhang mit einem niedrigen sozioökonomischen Status und dem Auftreten von Adipositas. »Da spielen Faktoren wie Einkommen, Bildung und Ausbildung eine Rolle. Und es ist sehr deutlich zu sehen, dass gerade bei Kindern sehr viel häufiger Adipositas besteht als bei Gleichaltrigen aus höherer Schicht«, betont der Experte.

Eine mögliche Erklärung für das Phänomen ist, dass armutsgefährdete Menschen mehr energiereiche Lebensmittel mit viel Zucker und Fett kaufen, um satt zu werden. So steigt einerseits die Energiezufuhr, andererseits werden zu wenige Nährstoffe aufgenommen. Auf diesen Zusammenhang weist auch die MEGA_kids-Studie hin. Sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene verzehrten im Mittel mehr Fleisch und Wurstwaren sowie mehr nährstoffarme und energiedichte Lebensmittel wie etwa süße und fettreiche Snacks als empfohlen. Im Gegensatz dazu kamen bei den Teilnehmenden weniger Obst, Gemüse, Fisch und Getreideprodukte auf den Tisch als empfohlen. Welche Auswirkungen dies langfristig auf die Entwicklung bei Kindern hat, können Forscher gegenwärtig nicht beantworten. Klar ist jedoch, dass eine gesundheitsfördernde Ernährung mit allen essenziellen Nährstoffen wichtig für ihre körperliche und geistige Entwicklung sowie ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit ist.

Unterstützung der Politik gefragt

Bleibt die Frage, wie sich die Situation in Deutschland verbessern lässt. Auch hier betont Linseisen: »Zunächst bräuchten wir wirklich ein Monitoringsystem, das Ernährungsarmut erfasst.« Dennoch gibt es bereits klare Forderungen, die der WBAE in seiner Stellungnahme formuliert hat – nicht nur für Krisenzeiten. Linseisen fasst die wichtigsten Punkte zusammen: »Dazu gehört, eine qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung und diese schrittweise beitragsfrei zu stellen. So bekommen von Ernährungsarmut betroffene Kinder zumindest einen guten Grundstock. Ebenso sollten Tafeln und andere karitative Angebote stärker durch staatliche Maßnahmen unterstützt werden. Das kann auch eine infrastrukturelle Unterstützung sein oder der Abbau von Hindernissen für Lebensmittelspenden. Außerdem müssen die Kosten einer gesundheitsfördernden Ernährung in der Berechnung der staatlichen Grundsicherung berücksichtigt werden – ich spreche da vom Bürgergeld oder auch von der geplanten Kindergrundsicherung, die nun leider nicht kommt.«

In der MEGA_kids-Studie wurden die Teilnehmenden selbst nach möglichen Maßnahmen gefragt. »Die Betroffenen haben sich tatsächlich überwiegend verhältnispräventive Maßnahmen gewünscht«, erläutert Simmet. »Dazu gehörten neben dem Zugang zu warmen Mahlzeiten in Kita und Schule auch eine Preissenkung für nährstoffreiche und gesunde Lebensmittel und ein Werbeverbot für Süßigkeiten.« Da die Kosten des Schulessens ein häufig genannter Grund waren, dieses nicht in Anspruch zu nehmen, plädiert auch Simmet für kostenfreie Mahlzeiten oder einen unbürokratischeren Zugang zu Zuschüssen. Ganz außer Acht lassen dürfe man aber natürlich auch nicht die Verhaltensprävention – also die Maßnahmen, die betroffene Familien selbst in Angriff nehmen können. Die teilnehmenden Familien gaben in der Studie zwar an, zum Beispiel gut kochen zu können. »Ein Ansatz wäre aber zum Beispiel zu vermitteln, welche guten Alternativen es zu Fleisch gibt oder zu energiedichten, nährstoffarmen Lebensmitteln«, so Simmet. Wichtig sei bei solchen Projekten jedoch, die Lebenssituation der Familien zu berücksichtigen und nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern einzubeziehen. »Das könnte zum Beispiel über Schulen, aber auch über Tafeln laufen.«

Klar ist, es gibt in Deutschland noch viel zu tun. Angefangen von mehr Forschung in diesem Bereich bis zur Bereitstellung von finanziellen Mitteln und der Umsetzung konkreter Projekte. Dass dieser Prozess sich zäh gestaltet, liegt unter anderem daran, »dass immer verschiedene Ministerien beteiligt sind und die Zuständigkeiten teils beim Bund und teils bei den Ländern oder Kommunen liegen. Ich würde mir wünschen, dass das schneller geht«, betont Linseisen. Er zeigt sich aber auch leicht optimistisch: »Ich denke, dass das Problem seitens der Politik erkannt wurde. Die Ernährungsstrategie der letzten Bundesregierung war ein erster Schritt, jetzt muss der Prozess natürlich weitergehen. Ich sehe aber schon, dass die Ministerien im Prinzip bereit sind, etwas zu tun.«

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