Alle Geschlechter im Blick |
Barbara Döring |
14.08.2023 08:30 Uhr |
Ein bekanntes Beispiel, dass Frauen eine schlechtere Prognose als Männer haben können, obwohl sie ein geringeres Erkrankungsrisiko haben und seltener betroffen sind, ist der Herzinfarkt. Während bei Männern das »typische« Alarmzeichen plötzlich starker Schmerzen im Brustkorb überwiegt, ist dieser bei Frauen weniger stark ausgeprägt. Bei ihnen sind die Symptome eher unspezifisch und äußeren sich unter anderem mit starker Müdigkeit, Atemnot, Übelkeit oder Rückenschmerz. Sie selbst, aber auch Ärztinnen und Ärzte nehmen die Zeichen deshalb oft nicht ernst, sodass ein akuter Herzinfarkt bei Frauen leichter übersehen wird und das Risiko höher ist, daran zu versterben als bei gleichaltrigen Männern.
Dagegen sieht es bei Männern bezüglich der Diagnose und Behandlung einer Osteoporose schlechter aus als bei Frauen. Denn in der Medizin hat die Osteoporose-Diagnostik bei Männern einen geringeren Stellenwert, da der Knochenschwund bei Frauen häufiger vorkommt. »Auch bei Depressionen ist inzwischen bekannt, dass Männer eher unterdiagnostiziert sind, da sie sich bei ihnen oft anders äußern als in den Lehrbüchern beschrieben«, sagt Seeland. Hier würde die Depression mit der weiblichen Symptomatik wie etwa Traurigkeit oder Zurückgezogenheit dargestellt, während Männer häufig eher aggressiv oder mit Suchtverhalten reagieren. Auch in der Rheumatologie gibt es sehr viele geschlechtsspezifische Unterschiede. So sind Frauen von rheumatischen Erkrankungen insgesamt häufiger betroffen als Männer und auch die Symptome sind oft unterschiedlich, sodass Männer hier eher unterdiagnostiziert sind. »Die geschlechtersensible Medizin ist also keine Frauenmedizin, sondern eine Medizin, die alle Geschlechter im Blick hat«, betont Seeland.
Und nicht nur das Geschlecht, auch andere Diversitätsfaktoren müssen Forscher und Mediziner künftig stärker mitdenken. »Alter, Ethnizität, Religion, Bildungsniveau und Bildungsverhalten wirken sich ebenfalls auf die Entstehung von Krankheiten und den Erhalt der Gesundheit aus«, betont Seeland, die am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité die biologischen und soziokulturellen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Bezug auf Gesundheit und Krankheit untersucht. Statt von Gendermedizin spricht sie deshalb lieber von »geschlechtssensibler Medizin unter Berücksichtigung der weiteren Diversitätsfaktoren«.