Zu groß oder zu klein geraten |
Üblicherweise pendeln sich die Messwerte eines gesunden Kindes bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr auf einer Perzentil-Kurve ein. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden dann alle Werte dieses Kindes bis zum Ende der Pubertät auf dieser Kurve liegen. Wenn man den Verlauf dieser Kurve bis zum 18. Lebensjahr verfolgt, lässt sich in etwa vorhersagen, wie groß das Kind als Erwachsener sein wird – immer unter der Voraussetzung, dass die Knochen dem Alter entsprechend »mitwachsen«.
Spätentwickler und Frühreife
Doch bei manchen Kindern ist die Entwicklung der Knochen beschleunigt oder verzögert. Dann bestimmt der Kinderarzt das sogenannte Knochenalter anhand eines Röntgenbildes der linken Hand. An der Zahl und Größe sowie der Breite der Wachstumsfugen bestimmter Handwurzelknochen und das Daumen-Sesambeins beurteilt der Arzt das Knochenalter.
Diese Methode könnte beispielsweise ergeben, dass das Knochenalter eines 6-jährigen Kindes dem eines 5-jährigen entspricht, sein Wachstum also um ein Jahr verzögert ist. Ein solches Kind ist daher auch kleiner als seine Altersgenossen. Kinder mit verlangsamtem Knochenwachstum kommen meist auch später in die Pubertät und holen dann wahrscheinlich die fehlenden Zentimeter auf. Da die Eltern dieser Kinder meist normal groß sind, ist zu erwarten, dass das Kind ebenfalls ein normal großer Erwachsener wird. Mediziner bezeichnen diese Fälle als Entwicklungsverzögerung oder konstitutionellen Kleinwuchs. Sie trifft auf 63 Prozent der kleinwüchsigen Jungen und 30 Prozent der kleinwüchsigen Mädchen zu. Bei der Familienanamnese stellen Ärzte oft fest, dass auch ein Elternteil dieser Kinder ein »Spätentwickler« war.
Erkennt der Arzt am Röntgenbild der linken Hand hingegen, dass die Knochen verfrüht gereift sind, gilt für diese Kinder: Sie wachsen in jungen Jahren zunächst extrem schnell und kommen recht früh in die Pubertät. Letztlich endet ihr Wachstum häufig schon im 12. Lebensjahr, aber sie werden normal groß. Mediziner sprechen in diesen Fällen von einer Entwicklungsbeschleunigung oder einem konstitutionellen Großwuchs.
Bei Kindern mit verzögertem oder beschleunigtem Wachstum trägt der Arzt die Werte ihrer Körperhöhe nicht mehr beim tatsächlichen Alter des Kindes ein, sondern bei dem gefundenen Knochenalter. Die »neue« Perzentil-Kurve entspricht dem tatsächlichen Wachstumsverlauf des Kindes deutlich besser. Auch bei diesen Kindern kann der Arzt die zu erwartende endgültige Größe am Kurvenende ablesen. Noch bessere Voraussagen erhalten Mediziner anhand anderer statistischer Tabellen, zum Beispiel nach Bayley-Pinneau.
Große Eltern, große Kinder
Bei manchen Kindern stimmen Knochenalter und Alter überein und dennoch sind sie kleiner oder größer als Gleichaltrige. Im Extremfall liegen ihre Wachstumskurven sogar unterhalb der 3. oder oberhalb der 97. Perzentile. Typischerweise verlaufen ihre individuellen Kurven stets parallel zu den Normkurven. In die Pubertät kommen diese Kinder zur selben Zeit wie ihre Altersgenossen.
Bei der Familienanamnese erfährt der Arzt häufig, dass bereits etliche Generationen klein- oder großwüchsig waren. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit werden die betroffenen Kinder auch relativ kleine oder große Erwachsene. Beunruhigten Eltern kann der Arzt anhand einer Formel (siehe Kasten), in die er die Körperhöhen der Eltern einsetzt, die zu erwartende Größe ihres Kindes in etwa voraus berechnen. Auch dieses Ergebnis ist bloß eine grobe Orientierung, erfahrungsgemäß variiert der tatsächliche Wert um bis zu 8,5 Zentimeter nach oben oder unten.
(Körperhöhe des Vaters + Körperhöhe der Mutter) : 2 - bzw. + [für Mädchen - 6,5 cm; für Jungen + 6,5 cm] = Größe (± 8,5 cm)
Übrigens: Auch die ethnische Herkunft müssen die Kinderärzte bei ihrer Beurteilung berücksichtigen. Beispielsweise sind Kinder süditalienischer Eltern oft deutlich kleiner als Kinder, deren Eltern aus dem europäischen Norden stammen.
Krankhafte Wachstumsstörung
Sehr aufmerksam beobachten die Pädiater allerdings Kinder, deren Messwerte nach dem 3. Lebensjahr bei jeder Kontrolle stärker von der ursprünglich »eingeschlagenen« Kurve abweichen. Das kann ein erster Hinweis auf eine pathologische Wachstumsstörung sein. Bei solch auffälligem Abdriften interessiert sich der Kinderarzt besonders für die Wachstumsgeschwindigkeit. Sie gibt an, wie viele Zentimeter ein Kind pro Jahr wächst. Zur Beurteilung der Werte kann der Arzt ebenfalls Perzentil-Kurven verwenden, die auf altersspezifischen Normwerten für Jungen und Mädchen basieren (siehe Grafik oben). Liegt die Wachstumsgeschwindigkeit eines Kindes unter der 25. Perzentile oder oberhalb der 75. Perzentile, gilt dies als Hinweis auf ungenügendes oder übermäßiges Wachstum. Dann wird der Arzt gezielt der Ursache auf den Grund gehen. Oft überweist er das Kind an einen Kinderendokrinologen, damit der Facharzt den Hormonstatus des Kindes überprüft.
Generell definieren Endokrinologen Kinder dann als kleinwüchsig, wenn ihre Werte regelmäßig unter der 3. Perzentile liegen. »Bei 700 000 Geburten pro Jahr gelten daher circa 300 000 Kinder in Deutschland als kleinwüchsig«, erklärt Professor Dr. Rolf Peter Willig im Gespräch mit PTA-Forum. Der ehemaliger Direktor der Universitäts-Kinder- und Jugendklinik in Hamburg-Eppendorf ist derzeit in einer Praxis in Hamburg mit den Schwerpunkten Wachstumsstörungen, Kinder- und Jugendendokrinologie tätig. Wenn diese Kinder nicht zu den Spätentwicklern gehören, müssen die Mädchen davon ausgehen, als Erwachsene kleiner als 153 cm und die Jungen kleiner als 167 cm zu sein.
Dass ein Kind zu wenig wächst, kann zahlreiche Ursachen haben. Insgesamt sind 450 Formen des Kleinwuchses bekannt. Fachleute unterscheiden zwei große Gruppen: Kinder mit einem proportionierten und Kinder mit disproportioniertem Aussehen.
Diagnose Hormonmangel
Sind die Proportionen des Kindes gleichmäßig, spricht das eher für einen Mangel an Wachstums- oder Schilddrüsenhormonen, eine Ernährungsstörung wie Zöliakie, eine chronische Erkrankung, beispielsweise eine Niereninsuffizienz, oder eine andere Organerkrankung. Hingegen deutet ein disproportionierter Körper, beispielweise ein langer Oberkörper auf kurzen Beinen, auf eine angeborene Störung des Skelettsystems hin.
Damit der Arzt die Proportionen eines Kindes exakt beurteilen kann, werden Beine und Oberkörper des Kindes im Sitzen gemessen. Außerdem liegen bei einem gut proportionierten Körper die Spannweite der Arme und die Körperhöhe maximal um 2 Prozent auseinander. Diese Tatsache hat bereits Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) auf Papier gebannt: Sein »vitruvianischer« Mensch berührt mit den Fingerspitzen, den Füßen und dem Kopf ein Quadrat in einem Kreis.
Neben den Körperproportionen achten Endokrinologen noch auf andere äußerliche Merkmale. Für den Mangel an dem Wachstumshormon Somatropin sind einige Auffälligkeiten charakteristisch (siehe Kasten). Vermutet der Arzt einen Hormonmangel, wird er im Blut des Kindes die Konzentrationen des insulinähnlichen Wachstumsfaktor IGF-1 und seines Bindungsproteins IGFBP-3 bestimmen lassen. Sind beide Werte erniedrigt, spricht das für einen Mangel an Somatropin (STH).
Das Wachstumshormon selbst lässt sich nicht so einfach im Blut messen, weil seine Konzentration je nach Tageszeit, körperlicher Belastung oder Stress extrem schwankt. Theoretisch müsste der Arzt das Kind nachts wecken und ihm Blut abnehmen, denn die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) schüttet Somatropin hauptsächlich im Tiefschlaf aus. Um die Funktion der Hypophyse auch tagsüber testen zu können, muss sie daher stimuliert werden. Morgens nüchtern erhalten die kleinen Patienten in einer Arztpraxis oder Klinik in möglichst entspannter Atmosphäre eine Infusion mit der Aminosäure Arginin, alternativ dazu können sie den Arzneistoff Clonidin einnehmen. Anschließend wird dem Kind aus einem venösen Zugang zwei Stunden lang alle 30 Minuten eine Blutprobe abgenommen. Bleiben die Somatropinwerte unter 8 ng/ml, ist ein Mangel sehr wahrscheinlich.
Somatropin substituieren
»Ein Wachstumshormonmangel im Kindesalter ist eine eher seltene Erkrankung. In Deutschland gibt es knapp 3000 Betroffene«, berichtet Willig. In den meisten Fällen findet der Arzt keine Erklärung für die Unterfunktion der Hypophyse. Sehr selten wird sie durch Tumore verursacht oder durch eine Behandlung mit Chemotherapeutika, eine Strahlentherapie, eine Infektion oder Verletzung.
Hat der Arzt den Hormonmangel sicher diagnostiziert, wird er dem Patienten beziehungsweise den Eltern zu einer Substitution mit Somatropin raten (Präparate siehe Tabelle). »Pro Kind kostet eine Behandlung circa 100 000 Euro«, erklärt der Experte. Die Dosierung des gentechnisch hergestellten Somatropins erfolgt anhand des Gewichtes oder der Körperoberfläche des Patienten. Die Therapie dauert solange, bis die Wachstumsfugen sich schließen, das sind meist einige Jahre. Der zu frühe Abbruch der Behandlung gefährdet ihren Erfolg, und die neu gewonnenen Zentimeter können wieder verloren gehen.