Beraten ohne Tabu |
Juliane Brüggen |
08.05.2023 14:00 Uhr |
Dass einem Kunden das Gespräch unangenehm ist, merkt man schnell – dann gilt es, zu reagieren und das Gespräch gegebenenfalls an einen ruhigeren Ort zu verlegen. / Foto: Adobe Stock/deagreez
»Sprechen Sie das Unaussprechliche aus«– dazu ermutigte Dorothea Esser, Apothekerin, die Zuhörenden beim Fortbildungskongress Interpharm. Ob Vaginalmykose, Hämorrhoidalleiden oder erektile Dysfunktion – die Beratung dürfe nicht unter falscher Scham leiden. Esser empfahl, einen Radar für »Tabu-Kunden« zu entwickeln. »Bei vielen Kunden fällt auf, dass sie die Apotheke nur zurückhaltend betreten, unsicher wirken und sich erst einmal umschauen. Vielfach ist es auch so, dass sie warten bis sich die Apotheke leert«, erklärte die ehemalige PTA-Schulleiterin. Im Gespräch falle auf, dass Kunden nur mit leiser Stimme sprechen oder den direkten Blickkontakt meiden. Dann braucht es vor allem eines – Diskretion. Ist diese im Verkaufsraum nicht gegeben, kann es helfen, das Gespräch in den Beratungsraum zu verlegen.
»Es ist nicht nur wichtig, die Kunden zu erkennen, wir sollten auch aktiv Zielgruppen ansprechen und Brücken bauen«, so die Apothekerin. »Der Kunde kann die Brücke annehmen, muss aber nicht.« Ein Patient mit chronischer Obstipation könnte zum Beispiel ein Problem mit Hämorrhoidalleiden haben, sich aber nicht trauen, es anzusprechen. Eine mögliche Herangehensweise: »Haben Sie noch weitere Beschwerden? Ich frage, weil viele Menschen mit Verstopfung auch Probleme mit Hämorrhoiden haben.«
Brücken braucht es oft auch bei einem anderen Tabuthema: Sex im Alter. »Ja, auch Menschen über 60 und 70 Jahre haben noch Geschlechtsverkehr«, machte Esser deutlich, obwohl es in der Gesellschaft totgeschwiegen werde. »In der Apotheke sollten wir offen darüber sprechen.« Als Beispiel nannte sie eine ältere Kundin, die eine Estrogen-Creme erhält. Hier könne man nachhaken: »Ist die Creme ausreichend oder haben Sie noch Probleme, zum Beispiel Schmerzen beim Geschlechtsverkehr?« Falls ja, bietet sich eine weitergehende Beratung an, zum Beispiel zu Gleitgelen oder Feuchtcremes.
Vorurteile gilt es auch beim Thema Bettnässen abzubauen. »Bettnässen ist kein Erziehungsfehler und kein Kind macht ins Bett, um die Eltern zu ärgern«, machte Esser deutlich. »Begegnen sie den Eltern mit viel Empathie.« Es spreche zwar keiner darüber, aber Bettnässen komme häufiger vor als man denke – bei etwa 30 bis 40 Prozent der Vorschulkinder.