Eine besondere Wahrnehmung |
Anschaulich und einfühlsam nehmen die Autorin Hippler und die Illustratorin, Tochter Pina Hippler, das Kind mit in seine autistische Wahrnehmungswelt. Stellvertretend für das Anderssein haben sie Aye-Ayes als Motiv gewählt. Diese kleinen Fingertiere sind Lemuren, scheue Einzelgänger, die nachts in den Regenwäldern Madagaskars jagen. Sie sind gut an ihre Umgebung und Bedürfnisse angepasst – können gut klettern und dank des ausgezeichneten Gehörsinnes ihre Beute hören. Doch fremde oder laute Geräusche, die nicht zu ihrer typischen Umgebung gehören, schmerzen ihnen in den Ohren.
Hipplers Botschaften: Jeder ist anders. Das ist okay. Wichtig ist, das Anderssein zu verstehen, beidseitig, die eigenen Stärken und Herausforderungen und die des anderen zu kennen, die eigenen Bedürfnisse zuzulassen und auf die des anderen Rücksicht zu nehmen. Dazu muss man wissen, wie der andere tickt – in der Familie, Klasse und später in Partnerschaft und Beruf.
»Einmal bedankte sich eine Patientin mit Tränen in den Augen, weil ich die erste Ärztin war, die für sie das Licht in der Praxis dimmte«, erzählt Hippler über eine Frau mit Autismus, die grelles Licht stark blendete. Eine hohe Sensibilität auf sensorische Reize des Alltags sei bei vielen Menschen mit ASS gegeben. Die Irritation bei Reizüberflutung könne so massiv sein, dass Konzentration, etwa auf den Unterricht, unmöglich werde und für längere Zeit das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität stark darunter litten.
Das Fingertier oder Aye-Aye aus Madagaskar steht im Ratgeber als Sinnbild für Menschen mit Autismus. Es ist nachtaktiv, ein Einzelgänger und recht empfindsam. / © Getty Images/25ehaag6
Behutsam entdeckt das Kind mit Autismus im Ratgeber entlang der Lebenswelt der Aye-Aye seine Stärken und Herausforderungen und lernt Strategien, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Dazu fließen Zitate von Kindern, jungen Erwachsenen und Eltern ein. Zu den Stärken neurodivergenter Personen zählen etwa das Auge fürs Detail, das gute logische Denkvermögen – ein Plus für die Wissenschaft. Ein eigenes analytisches Urteil schützt sie vor Mitläufertum, auch Worttreue und Verlässlichkeit, sachliches statt moralisches Argumentieren und ein hoher Fairness- und Gerechtigkeitssinn sind ihnen oft zu eigen. Herausfordernd kann dagegen für Menschen mit Autismus sein, dass sie neben einer hohen sensorischen Sensibilität Gefühle, aber auch eigene Körpersignale wie Durst, Kälte, Harndrang kaum oder verspätet spüren, insbesondere wenn sie gerade ganz in ein Thema vertieft sind. Abhilfe kann hier ein Wecker schaffen, der etwa ans Trinken erinnert.
Viele können auch schwer mit Veränderungen umgehen, etwa mit einer neuen Sitzordnung in der Klasse oder einem anderen Mittagessen als zuvor besprochen. Sogenanntes Stimming, wiederholende, rhythmische Bewegungen oder wiederholendes Drücken von Objekten wie Kugelschreiber, bestimmte Geräusche oder wiederholendes Summen, wirken oftmals beruhigend auf neurodivergente Menschen – wenn sie sich dabei nicht selbst verletzen. Wichtig: Bezugspersonen wie die Klassenlehrerin sollten über die autistischen Besonderheiten des Schülers aufgeklärt werden, das Kind selbst sollte auf Veränderungen möglichst gut vorbereitet werden.
Das Kapitel »Selbstakzeptanz: So bin ich!« gibt auch Tipps, wem man von der Diagnose erzählen kann und wem besser nicht. Die Selbstakzeptanz ist wichtig, um eventuell bisher angewandte schädigende Anpassungsstrategien an Mitschüler, Lehrer, Eltern und so weiter abzulegen, weil das Maskieren und Imitieren auf die Dauer stark erschöpft und unglücklich macht. »Es ist wichtig, eine Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des Umfeldes zu finden. Für ein gelingendes Miteinander sind beide Seiten verantwortlich, Menschen mit und ohne Autismus«, so Hippler.