Essstörungen bei Jugendlichen verstehen |
Es geht, grob gesagt, um Kontrolle oder das Gefühl der Kontrolle, erklärt der Psychosomatik-Experte. »Wenn ich merke, dass das Leben, dass mein Leben mir aus den Händen gleitet, gibt es eine Gruppe von Menschen, die versuchen, diesen Zugriff auf ihr Leben wieder durch Kontrolle ihres Essverhaltens, ihres Gewichts zurückzugewinnen.«
Dabei spiele auch eine Rolle, dass der Appetit und die Gewichtsregulation eigentlich ein durch die Evolution sehr basal verankertes Grundbedürfnis ist. »Nur einer kleinen Gruppe von Menschen gelingt es, dieses Grundbedürfnis aushebeln zu können – diese Erfahrung der Kontrolle ist zunächst mit einem guten Gefühl für die Betroffenen verbunden.«
Und dann passiere es, dass »der Selbstwert, das Selbstbild, das Selbstbewusstsein zunehmend davon abhängt, wie ich meinen Körper, meinen Appetit kontrolliere«. Diese Symptomatik beschreibt Zipfel als »ich-synton, das heißt, mit der eigenen Person verbunden, eigentlich schon fast verbacken« – in dieser Situation droht die Erkrankung, zum Teil der Persönlichkeit zu werden.
Die gute Nachricht ist: Essstörungen, auch schwere Fälle, sind behandel- und heilbar, sagt Stephan Zipfel. Er berichtet von den Ergebnissen einer Nachuntersuchung zu einer Behandlungsstudie zu Psychotherapie bei Magersucht, an der er mitgearbeitet hat. Fünf Jahre nach Therapieende konnten 41 Prozent der Patientinnen als genesen eingestuft werden. »Das bedeutet: Es gab bei ihnen auch keinen Symptom-Shift, sondern sie zeigten tatsächlich weder im Bereich Essstörung noch im Bereich anderer psychischer Erkrankungen Auffälligkeiten.«
Aber, das muss man wissen, die Genesung ist ein Prozess, und zumeist nicht unbedingt ein ganz gradliniger. Daher empfiehlt Zipfel, dass Betroffene und Behandler frühzeitig zusammen einen sogenannten Gesamtbehandlungsplan machen, also besprechen: Welche Schritte sind notwendig, um aus der Essstörung herauszukommen? Hier helfen Techniken, die insbesondere die Behandlungsmotivation stärken. Aber auch diese ersten Schritte können anstrengend und schmerzhaft sein.
»Eine der großen Ambivalenzen für die Betroffenen ist: Lasse ich mich auf eine Therapie ein – weil dann muss ich mich auch ein Stück weit von dieser Fähigkeit, die mich ja auch stabilisiert, nämlich dass ich sehr basale Bedürfnisse kontrollieren kann, verabschieden.« Daher gebe es bei Erkrankten relativ selten den Impuls, diesen Abschied von der Magersucht anzugehen: »Menschen mit einer Essstörung suchen nicht unbedingt Hilfe, sondern schotten sich häufig ab«, sagt Zipfel. »Es ist eine Herausforderung für die Familie und Freunde, wie sie mit dieser Situation umgehen.«