Hochsensibilität verstehen |
Der Begriff der Hochsensibilität ist allerdings umstritten. Kritiker meinen, damit würden Menschen, die nicht hochsensibel sind, als unsensibel abgestempelt. Andere halten Hochsensible einfach für neurotisch, also für emotional labil. Und wieder andere bemängeln, dass die Feststellung von Hochsensibilität ausschließlich auf der Selbsteinschätzung der Betroffenen beruht.
Marcus Bürger hat jedoch keinen Zweifel daran, dass es Hochsensibilität gibt. Er ist Mitarbeiter an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität und forscht zum Thema. Aber er findet den deutschen Begriff nicht ganz passend. Jemand, der sensibel sei, werde oft als »Sensibelchen« abgestempelt.
Er nutzt lieber die englischen Bezeichnungen »Sensory Processing Sensitivity« (SPS) und »Highly Sensitive Person« (HSP). »›Sensitive‹ bedeutet so viel wie empfindsam, das wird im deutschen Sprachgebrauch als weniger wertend verstanden«, sagt er. Also sensorische Verarbeitungssensitivität statt Hochsensibilität und hoch empfindsame statt hochsensible Person, so könnte man die englischen Begriffe übersetzen.
Laut Elaine Aron kommen bei Hochsensiblen alle vier genannten Merkmale zusammen. Andere Forschende nehmen an, dass es unter Betroffenen durchaus sehr unterschiedliche Persönlichkeitsprofile gibt. Zu ihnen gehört Marcus Bürger. »Die Übererregbarkeit muss nicht bei allen eine dominierende Rolle spielen«, gibt er ein Beispiel.
Es wird angenommen, dass Hochsensibilität genetisch bedingt ist. Laut Bürger können aber auch traumatische Erlebnisse eine Hochsensibilität begünstigen. Wie Betroffene mit ihrer Empfindsamkeit zurechtkommen, hängt unter anderem vom Verhalten ihrer Eltern ab. Gab es in der frühen Kindheit Verständnis und Unterstützung? Das stärkt Hochsensible – sie werden ihre Besonderheit eher als Gabe wahrnehmen.
»Ein Mangel an Zuwendung und Sicherheit in frühen Entwicklungsphasen führt hingegen zu einer höheren Vulnerabilität«, sagt Marcus Bürger. Diejenigen werden eher dazu neigen, sich durch ihre Hochsensibilität überfordert und erschöpft zu fühlen.
Für viele Betroffene, die sich an Anna Schmidt wenden, bedeutet ihre Hochsensibilität Stress. Ihnen kommt das Leben oft anstrengend und schwer vor. »Viele Betroffene haben einen Hang zum Grübeln, zweifeln an sich selbst und ihre starken Gefühle machen es ihnen oft schwer, sich abzugrenzen«, sagt die Psychologin. »Sie sind oft so sehr auf das Wohl anderer bedacht, dass sie den Draht zu sich selbst verlieren.«
Kein Wunder, dass Hochsensibilität und psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zusammenzuhängen scheinen. Damit es so weit nicht kommt, ist es wichtig, dass Betroffene ihre Bedürfnisse kennen und berücksichtigen. Laut Anna Schmidt ist zunächst wichtig, sich zu informieren. »Für viele ist es schon sehr hilfreich, einordnen zu können, warum sie so sind, wie sie sind.«