Hohes Risiko für Jugendliche durch Cannabiskonsum |
Barbara Döring |
27.06.2023 08:30 Uhr |
Cannabinoide aus der Hanfpflanze können die Gehirnentwicklung beeinträchtigen. / Foto: CAdobe Stock/yellowj
Jeden Morgen findet in der psychiatrischen Klinik der Universität Ulm eine Frühbesprechung statt. Die Assistenzärzte berichten, welche Notfälle sich in der Nacht ereignet haben. Professor Dr. Carlos Schönfeldt-Lecuona, stellvertretender Leitender Oberarzt, nimmt seit 26 Jahren daran teil. Zwischen 2007 und 2009 bemerkte er, dass immer häufiger von Cannabis-assoziierten Störungen berichtet wurde. Waren es davor Alkohol- und Mischintoxikationen, die Menschen notfallmäßig in die Klinik brachten, rückte nun das Hanfgewächs als Auslöser akuter Psychosen immer stärker in den Fokus.
Schönfeldt-Lecuona und sein Kollege Professor Dr. Maximilian Gahr wollten es genauer wissen und werteten die Daten der Notfälle der eigenen Klinik zwischen 2011 und 2018 aus. »Wir waren überrascht, dass die Cannabis-Psychosen in der Zeit erheblich zugenommen hatten«, sagt Schönfeldt-Lecuona im Gespräch mit PTA-Forum. In einer weiteren Studie mit Klinikdaten des Statistischen Bundesamtes aus ganz Deutschland stellten sie fest, dass dies nicht nur ein Problem der Ulmer Region war, sondern Cannabis-assoziierte Störungen bundesweit zugenommen hatten.
Laut Suchtbericht der Bundesregierung von 2019 haben 40,5 Prozent der jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert. In den 1990er-Jahren waren es noch 23 Prozent. Das heißt, die Zahl hat sich seitdem fast verdoppelt – Tendenz steigend. »Möglicherweise sind Menschen neugieriger geworden und wollen eher neue Sachen ausprobieren, dazu wird es immer leichter, Stoff zu bekommen. Fakt ist, dass in Deutschland immer mehr junge Menschen Zugang zu Cannabis haben«, sagt Schönfeldt-Lecuona. Die Tatsache, dass Cannabis hierzulande seit 2017 für medizinische Zwecke zugelassen ist, könnte ebenfalls eine Rolle spielen. Wenn Menschen leichter mit einer Droge in Berührung kämen, würden sie diese auch eher probieren, sagt der Psychiater. Doch damit steige auch die Gefahr, psychisch zu erkranken.
Dass es immer häufiger durch den Konsum von Cannabis zu Psychosen kommt, könnte daran liegen, dass die Züchtungen sich im Laufe der Jahre deutlich verändert haben. Während der Gehalt an Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC), der Substanz, die für die Rauschzustände verantwortlich ist, in den 1990er-Jahren bei 3 bis 4 Prozent lag, enthalten heutige Züchtungen 20 bis 30 Prozent, zum Teil sogar noch mehr. Die neuen Züchtungen enthalten dann verhältnismäßig weniger Cannabidiol (CBD), das als Gegenspieler des berauschenden Bestandteils THC gilt. Schönfeldt-Lecuona warnt Jugendliche deshalb: »Vorsicht! Das, was damals geraucht wurde, war etwas völlig anderes als das, was heute konsumiert wird.«
Cannabis entfaltet seine Wirkung beim Menschen, weil es für die enthaltenen Cannabinoide im gesamten Körper passende Rezeptoren gibt, vor allem im Gehirn. An sie docken körpereigene Botenstoffe, die Endocannabinoide. Sie sind Bestandteil des Endocannabinoidsystems, einem Teil des Nervensystems, das bei der Steuerung wichtiger Funktionen wie Appetit, Schlaf oder Schmerz eine Rolle spielt. Besonders viele der Rezeptoren finden sich im vorderen Gehirnbereich, dem Frontallappen, der als Sitz der Persönlichkeit und des Sozialverhaltens gilt. Würden Cannabinoide von außen zugeführt, würden diese empfindlichen Rezeptoren wie mit Bomben stimuliert und könnten das gesamte System stören, beschreibt es Schönfeld-Lecuona.
Warum ist der Cannabiskonsum gerade bei Jugendlichen kritisch zu sehen? Bei Kindern und Jugendlichen finden im Gehirn Umstrukturierungen statt und das Gehirn ist in dieser Phase des Lebens eminent plastisch. Zwischen den einzelnen Regionen werden neue Verbindungen geknüpft, bereits bestehende werden gestärkt oder auch wieder gekappt. Junge Menschen lernen in dieser Zeit, komplexe Aufgaben zu lösen und ihre Gefühle zu kontrollieren. Dieser Reifungsprozess ist oft bis zum 25. oder sogar 30. Lebensjahr noch nicht komplett abgeschlossen. »Jugendliche sind deswegen besonders labil und anfällig für Funktionsstörungen des Gehirns«, weiß Schönfeldt-Lecuona. Cannabis greift in diese Prozesse ein und kann die Anfälligkeit für psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie und Depressionen erhöhen sowie kognitive Fähigkeiten beeinträchtigen. »Erst seit wenigen Jahren ist bekannt, dass Cannabis die Neurobiologie des Gehirns verändert«, sagt der Psychiater. Einen wesentlichen Hinweis gab eine 2021 im Fachjournal »JAMA Psychiatry« veröffentlichte Studie, die in acht europäischen Zentren durchgeführt wurde.
Für die Untersuchung wurden bei fast 500 Jugendlichen im Alter von 14 Jahren, die noch nie Kontakt zu Cannabis hatten, eine Kernspintomografie des Gehirns sowie neuropsychologische Tests durchgeführt. Fünf Jahre später wurden bei den 19-Jährigen die Aufnahmen und Tests wiederholt. Bei den Jugendlichen, die inzwischen Cannabis konsumiert hatten, war im vorderen Bereich des Gehirns – dem frontalen Cortex – das Nervengewebe dünner geworden. Je mehr geraucht wurde, umso größer fiel die Ausdünnung aus. Gleichzeitig zeigten sich Veränderungen der Neuropsychologie: Jugendliche mit Cannabiskonsum waren eher impulsiv und unaufmerksam, ähnlich wie man es von ADHS-Patienten kennt.
Ob diese Veränderungen reversibel sind, hängt zum einen von der genetischen Grundausstattung ab, zum anderen von der Dauer und Intensität des Konsums: »Manche Jugendliche hören rechtzeitig mit dem Rauchen auf, sodass ihr Gehirn wieder normal funktionieren kann«, sagt Schönfeldt-Lecuona. Sind die Veränderungen jedoch bereits stark ausgeprägt und lange vorhanden, sei es schwer, sie wieder rückgängig zu machen. Gleichzeitig ist das Risiko, eine Psychose zu entwickeln, umso höher, je mehr geraucht wird.
Einen Grenzwert, wie viel Cannabis bedenkenlos konsumiert werden könne, gibt es laut Schönfeld-Lecuona nicht: »Mitunter kommen Menschen mit einer akuten Psychose in die Notaufnahme, die erst zwei- oder dreimal konsumiert haben«, sagt der Psychiater. Sie leiden unter anderem unter heftigen Wahnsymptomen wie Verfolgungswahn (Paranoia) oder Vergiftungswahn und/oder Halluzinationen, die Tage bis Wochen, manchmal auch Monate anhalten können.
Problematisch ist auch, wenn Jugendliche ein amotivationales Syndrom entwickeln: Betroffene, die täglich zwei- bis dreimal Cannabis rauchen und den Rest des Tages fast ausschließlich chillen, würden in der Schule nichts mehr leisten, keinen Sport machen und wollten auch ihr künftiges Leben so verbringen. »Das ist nicht nur schlimm für die Eltern, sondern auch für die Gesellschaft und letztlich auch für die Jugendlichen, die oft nicht mehr die Schule bewältigen und keine Ausbildung abschließen«, betont Schönfeldt-Lecuona.
»Ich würde es niemals zulassen, dass Cannabis vor dem 25. Lebensjahr frei konsumiert werden darf«, betont der Psychiater. Die Erfahrungen aus Ländern wie Uruguay, Kanada oder USA zeigen, dass Jugendliche nach der Legalisierung von Cannabis zu Genusszwecken nicht weniger, sondern mehr konsumierten. Viele Jugendliche wüssten zudem nicht, dass Cannabis gefährlich ist, und wären sogar der Meinung, es sei viel gesünder als etwa Alkohol oder andere Drogen. Der Psychiater befürchtet, dass dies bei einer Legalisierung erst recht so wahrgenommen würde.
Könnte es dann ein Kompromiss sein, für junge Menschen einen niedrigeren THC-Gehalt festzulegen? Von dieser Lösung ist Schönfeldt-Lecuona nicht überzeugt, denn die meisten Jugendlichen würden gerade deshalb rauchen, weil sie einen »Kick« erleben wollten. In den USA sähe man den Trend, dass gerade Jugendliche die stärkeren Züchtungen mit THC-Gehalten um 30 Prozent bevorzugen. Würde man nur niedriger dosierte Produkte erlauben, würde der Schwarzmarkt weiter boomen.
Was können Eltern tun, wenn der Sohn oder die Tochter kifft? »Wir empfehlen, das Thema anzusprechen und eventuell gemeinsam mit dem Kind zur Suchtberatungsstelle zu gehen, um sich über Cannabiskonsum genau aufklären zu lassen«, sagt Schönfeldt-Lecuona. Eine gute Aufklärung sei wichtig, um zu verstehen, was mit dem eigenen Gehirn passiert, wenn Jugendliche weiter rauchen. Auch der Nutzen von Cannabis als Medikament bei bestimmten Indikationen sollte realistisch vermittelt werden. »Ich sage nicht, dass wir Cannabis verteufeln sollten«, betont der Psychiater. Aber Cannabis als Genussmittel zu betrachten, verharmlose die Sache.
Noch in diesem Jahr soll die kontrollierte Abgabe von Cannabis als Genussmittel an Erwachsene gesetzlich erlaubt werden. Dabei soll es strenge Vorgaben geben, um Kinder und Jugendliche vor dem Konsum zu schützen. Zunächst wird der Erwerb in Anbauvereinen – sogenannte Cannabis-Clubs – möglich sein. Erwachsene dürfen dort täglich maximal 25 Gramm erwerben und maximal 50 Gramm pro Monat. Für Erwachsene bis 21 Jahren ist die monatliche Bezugsmenge auf 30 Gramm begrenzt. Der THC-Gehalt wird für Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren auf voraussichtlich 10 Prozent begrenzt. Privat darf jeder Erwachsene drei weibliche Pflanzen anbauen.
Die Abgabe in Fachgeschäften wird in einem zweiten Schritt als befristetes Modellvorhaben geprüft. Der öffentliche Konsum in der Nähe von Schulen oder Kitas soll verboten sein. Die Weitergabe von Cannabis von Erwachsenen an Kinder und Jugendliche gilt auch künftig als Straftat. Minderjährige dürfen nach wie vor kein Cannabis konsumieren oder besitzen. Werden sie mit Cannabis erwischt, sollen sie an Frühinterventions- und Präventionsprogrammen teilnehmen.