Kopfschmerzen durch Schmerzmittel |
Juliane Brüggen |
05.09.2021 12:00 Uhr |
Bei langfristiger oder übermäßiger Einnahme von Schmerzmitteln können Kopfschmerz-Patienten in einen Teufelskreis geraten, weil die Kopfschmerzen persistieren oder immer wiederkehren. / Foto: Getty Images/Grace Cary
Kopfschmerzen durch Schmerzmittel? Eigentlich ein Widerspruch, aber doch Realität: Nehmen Patienten, die an einem Kopfschmerzsyndrom leiden, zu häufig oder überdosiert Analgetika und/oder Migränemittel ein, kann es zu arzneimittelinduzierten Dauerkopfschmerzen kommen. Diese Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln (engl. Medication Overuse Headache, MOH) führen Patienten in einen Teufelskreis aus Schmerzmittel-Einnahme und wiederkehrenden (»Rebound«) oder chronischen Kopfschmerzen. Nicht nur die Dauerkopfschmerzen sind ein Problem: Substanzen wie nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR) können bei unsachgemäßer Einnahme Organsysteme schädigen, zum Beispiel den Magen-Darm-Trakt, die Nieren, das Herz-Kreislauf- und Gerinnungssystem. Paracetamol kann Leberschäden verursachen.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) macht anlässlich des Deutschen Kopfschmerztages am 5. September auf dieses Problem und die entscheidende Rolle der Hausärzte aufmerksam. Die private und berufliche Belastung steige sprunghaft an, wenn Personen an acht oder mehr Tagen pro Monat Kopfschmerzen haben. Dadurch leide einerseits das persönliche und soziale Umfeld, andererseits komme es oft begleitend zu Angststörungen und Depressionen. Bereits ab einer regelmäßigen Einnahme an mehr als neun Tagen pro Monat liege ein schädlicher Übergebrauch vor. Die Hausarztpraxis sei ein zentraler Ort, um Patienten, die häufig an Kopfschmerzen leiden, aufzufangen.
Ziel müsse sein, dass Hausärzte differenzierte Kopfschmerzdiagnosen stellen, Patienten mit einem hohen Risiko erkennen und an einen Facharzt überweisen. Dazu sei die Kooperation zwischen Hausärzten, Neurologen und Kopfschmerzspezialisten unerlässlich. Die Hausarztpraxis könne zudem bereits eingreifen und eine gezielte Akuttherapie sowie eine medikamentöse und nicht-medikamentöse Prophylaxe einleiten.
Haben die Schmerzen sich erst chronifiziert, werde die Behandlung schwieriger und erfordere eine multidisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten. Zu den Risikofaktoren für eine Chronifizierung zählt die DMKG eine Kopfschmerzfrequenz von mehr als sieben Tagen pro Monat, die häufige Einnahme von Schmerzmitteln, begleitende Depressionen, Angsterkrankungen und zusätzliche Schmerzsyndrome wie Rücken- und Nackenschmerzen.
»Der Hausarzt ist meist der erste Ansprechpartner für diese Patienten. Vor allem die vorbeugenden Therapien müssen mehr eingesetzt werden als bislang«, sagt Prof. Dr. med. Zaza Katsarava, Präsident der European Headache Federation (EHF) und DMKG-Kopfschmerzexperte.
Eine paneuropäische Studie zeige, dass viele Migränepatienten nicht die geeignete Akuttherapie und zudem keine leitliniengerechte Prophylaxe erhielten. Katsarava führt dies auf den Zeitmangel zurück: »Wir wissen, dass es in der Hausarztpraxis teilweise an der nötigen Zeit fehlt, die besonders schwer betroffenen Patienten adäquat zu beraten und zu therapieren.« Die EHF habe ein Dreistufensystem entwickelt, dessen Basis die Behandlung durch Hausärzte ist. Nur komplexe Fälle sollen demnach an Fachärzte und universitäre Einrichtungen überwiesen werden.
Viele Schmerz- und Migränemittel sind in der Selbstmedikation erhältlich. Die Apotheke ist daher eine wichtige Instanz, um den Übergebrauch zu verhindern oder ihn zu erkennen. Vielen Patienten ist gar nicht bewusst, dass die Einnahme der Schmerzmittel schädlich werden und zu physischen und psychischen Gesundheitsschäden führen kann. Die S3-Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“ greift das Thema auf und richtet sich unter anderem an Apotheken.
Die Leitlinienautoren empfehlen, vor der Abgabe von nicht-opioiden Analgetika und Triptanen zu fragen, wie die bisherigen Erfahrungen mit Schmerz- und Migränemitteln aussehen, insbesondere im Hinblick auf die Häufigkeit der Einnahme und die Einzeldosis. Relevant ist außerdem der Hinweis, dass Patienten die Mittel ohne ärztlichen Rat nur kurzfristig und in der niedrigst möglichen Dosis einnehmen sollten. Je nach Schmerzmittel ist die Dauer auf maximal vier Tage (bei leichten bis mäßigen Schmerzen) oder maximal drei Tage (bei Fieber) begrenzt. Ist ein Patient von häufigen Kopfschmerzen betroffen, ist besonders wichtig, dass er die Analgetika nicht häufiger als zehn Tage im Monat anwendet, da sich ansonsten ein arzneimittelinduzierter Kopfschmerz entwickeln könnte.
Zu den nicht-opioiden Analgetika gehören die NSAR Acetylsalicylsäure, Diclofenac, Ibuprofen und Naproxen sowie Paracetamol und Metamizol. Die Arzneistoffe sind zum Teil als Kombinationspräparate, zum Beispiel mit Koffein, im Handel. Zur Akuttherapie der Migräne stehen außerdem 5-HT1-Rezeptor-Agonisten (Triptane) wie Almotriptan oder Naratriptan zur Verfügung.
Besteht der Verdacht, dass ein schädlicher Gebrauch oder Fehlgebrauch sowie ein resultierender chronischer Kopfschmerz vorliegt, sollte das pharmazeutische Personal den Patienten der Leitlinie zufolge an einen Arzt verweisen. Die Abgabe des Medikaments zu verweigern, sei nicht zielführend, ebenso wenig wie die Umstellung auf ein anderes Schmerzmittel.
Der Arzt kann dann gemeinsam mit dem Patienten nach Lösungen suchen, zum Beispiel eine alternative Therapie und Prophylaxe oder ein professionell begleiteter Entzug in einer ambulanten oder stationären Einrichtung. Nicht-opioide Analgetika führen zwar nicht zu einer Abhängigkeit oder Entzugssymptomen, dennoch kann sich ein starkes Verlangen nach den Arzneimitteln entwickeln.
Der Übergebrauch von Schmerz- und Migränemitteln ist entsprechend der S3-Leitlinie »Medikamentenbezogene Störungen« definiert als die zu häufige Einnahme von Medikamenten zur Behandlung akuter Kopfschmerzattacken. Die häufige oder tägliche Einnahme kann schon nach vier Wochen zum Dauerkopfschmerz führen, häufig auch erst nach Jahren.
Diagnostische Kriterien sind unter anderem das Auftreten von Kopfschmerzen an mehr als 15 Tagen pro Monat bei Patienten mit Kopfschmerzsyndrom, regelmäßiger Übergebrauch über mehr als drei Monate eines oder mehrerer Medikamente, die zur akuten oder symptomatischen Behandlung von Kopfschmerzen dienen, die Einnahme von nicht-opioiden Monoanalgetika an 15 oder mehr Tagen im Monat, die Einnahme oder Applikation von (Koffein- oder Codein-haltigen) Kombinationsanalgetika, Triptanen, Mutterkornalkaloiden oder Opioiden an zehn oder mehr Tagen pro Monat.
Etwa 40 bis 50 Prozent der Patienten mit chronischen Kopfschmerzen nehmen Schmerz- und Migränemittel übermäßig ein. Etwa 0,7 bis 1 Prozent sind in Deutschland von Kopfschmerzen durch Übergebrauch von Schmerz- oder Migränemitteln betroffen.