Pharmazeutische Hilfen gekonnt einsetzen |
Datenbanken zur Risikoabschätzung von bestimmten Krankheiten oder potenziellen Nebenwirkungen eines Arzneimittels können in der Beratung den Arbeitsaufwand erheblich reduzieren. / Foto: Getty Images/Bogdanhoda
Der Einsatz von Hilfen in Apotheken ist heutzutage derart selbstverständlich, dass er an vielen Stellen nicht mehr hinterfragt oder wahrgenommen wird. Schnell wird ein Blick auf eine Übersicht in der Kitteltasche geworfen und der Interaktions-Check prüft per se auf Wechselwirkungen. Weitere Hilfen können die pharmazeutische Beratung erleichtern oder ergänzen und damit einen Mehrwert für den Patienten generieren. Der bewusste Umgang mit diesen Hilfen erfordert jedoch auch die Kenntnis darüber, wann sie an ihre Grenzen stoßen.
Mit Einführung der pharmazeutischen Dienstleistungen ist die Messung des Blutdrucks in Apotheken noch präsenter geworden. Nach der Messung gilt es mitunter, dem Kunden mitzuteilen, dass seine Blutdruckwerte über den empfohlenen Grenzwerten liegen. Die Aussage an sich ist für den Betroffenen allerdings wenig greifbar. Zur Veranschaulichung eignet sich hier der sogenannte SCORE(Systemic Coronary Risk Evaluation)-Kalkulator der Europäischen Kardiologie-Gesellschaft (ESC), mit dem sich das individuelle Zehn-Jahres-Risiko für eine tödliche kardiovaskuläre Erkrankung abschätzen lässt.
Altersabhängig gibt es zwei verschiedene Scores, die unter www.heartscore.org/en_GB zur Verfügung stehen. Mit dem Algorithmus SCORE2 lässt sich das Zehn-Jahres-Risiko von bisher kardiovaskulär gesunden Menschen im Alter von 40 bis 69 Jahren einschätzen. Für Patienten über 70 Jahre gibt es mit SCORE2-OP einen eigenen Risikorechner. Neben der Risikoermittlung kann SCORE2 in der Beratung zudem zur Begründung von Lebensstil-Modifikationen und Akzeptanzförderung von Arzneimittel-Anwendungen genutzt werden.
Zu beachten sind einige Limitationen: Die SCORE-Algorithmen berücksichtigen zum Beispiel nicht Risikofaktoren wie Ernährung, körperliche Aktivität, Komorbiditäten, Arzneimittel-Anwendungen oder familiäre Vorbelastungen. Zudem unterschätzt SCORE2 das individuelle Risiko bestimmter Personengruppen wie kardiovaskulär Vorerkrankte, Niereninsuffiziente oder Diabetiker, die ein generell erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse haben. Für eine genaue Risikoermittlung wird zudem die Konzentration des Nicht-HDL-Cholesterols (Differenz aus Gesamt-Cholesterol und HDL-Cholesterol) benötigt.
Ebenfalls zur Veranschaulichung des kardiovaskulären Risikos geeignet sind Rechner, die auf Basis des PROCAM- oder Framingham-Scores das Herzalter bestimmen. Diese Hilfen unterliegen ähnlichen Limitationen wie SCORE2 und dienen ausschließlich der Aufklärung und nicht der Diagnostik oder Therapiebegleitung. Sie können aber beispielsweise für die Planung von Aktionstagen in der Apotheke interessant sein.
Eine häufige Meldung im Interaktions-Check ist die QT-Zeit-Verlängerung. Die QT-Zeit beschreibt die Erregungsdauer der Herzkammer, von der Q-Zacke bis zur T-Welle im EKG. Sie dauert normalerweise 350 bis 440 Millisekunden. Werte der frequenzabhängig normierten QT-Zeit (QTc-Zeit) von mehr als 500 Millisekunden sind ein deutlicher Risikofaktor für Torsade-de-pointes(TdP)-Tachykardien, die wiederum zu Kammerflimmern und plötzlichem Herztod führen können.
Zahlreiche Arzneistoffe können dosisabhängig und additiv die QT-Zeit verlängern, wobei nicht jeder Wirkstoff das gleiche Risiko für TdP-Arrhythmien birgt. Für eine erste Risikoeinschätzung bietet sich die Website crediblemeds.org des Scientific Advisory Board des Arizona Center for Education and Research on Therapeutics (AZCERT) an. Hier finden sich Stoffe mit bekanntem TdP-Risiko neben Stoffen mit einem möglichen Risiko, für das die Evidenz bei einem bestimmungsgemäßen Gebrauch jedoch noch nicht ausreichend ist.
Des Weiteren werden Arzneistoffe mit einem bedingten Risiko gelistet. Ein solches besteht dann, wenn diese Mittel mit weiteren QT-Zeit-verlängernden Arzneistoffen kombiniert werden oder sie Situationen wie beispielsweise Elektrolyt-Entgleisungen begünstigen, in deren Folge es wiederum zu einer TdP kommen kann.
Vom AZCERT wurde außerdem ein Risiko-Score für das Auftreten von TdP entwickelt, der nach Anmeldung kostenfrei genutzt werden kann. Ein Wert ab 9 gibt dabei ein moderates, ab 12 ein hohes und ab 16 ein sehr hohes Risiko an. Bei der Nutzung im ambulanten Bereich muss berücksichtigt werden, dass der medsafetyscan für den stationären Bereich entwickelt wurde.
Bekannt ist den meisten Apothekern vermutlich die Priscus-Liste, die potenziell inadäquate Medikation (PIM) für ältere Menschen benennt. Sie hat im Januar 2023 mit Version 2.0 ein Update erfahren und steht zum Download auf priscus2-0.de bereit. Priscus 2.0 bewertet insgesamt 187 Wirkstoffe und Wirkstoffgruppen als PIM. Die Liste enthält darüber hinaus Angaben zu möglichen Alternativen und welche Maßnahmen bei Alternativlosigkeit den Einsatz begleiten sollten.
Zur Beurteilung von PIM kann auch die als App und Web-Anwendung verfügbare Forta-Liste herangezogen werden. Sie teilt den Nutzen von Arzneistoffen bei Älteren im Gegensatz zu Priscus 2.0 abhängig von ihrer Indikation ein.
Bei der Benutzung von PIM-Listen muss sich immer vor Augen geführt werden, dass es sich um potenziell inadäquate Arzneistoffe handelt, ein unbedingtes Vermeiden dieser Substanzen in der Praxis aber nicht möglich ist. Darüber hinaus sind einige der genannten Alternativen, zum Beispiel nicht pharmakologische Interventionen wie Blasen- oder Beckenbodentraining für die allermeisten Urologika, hinsichtlich Praxistauglichkeit kritisch zu hinterfragen.
Ein Sonderfall für potenziell inadäquate Medikation sind anticholinerg wirksame Arzneistoffe, die zusammengefasst als anticholinerge Last (anticholinergic burden, ACB) häufig separat betrachtet werden. Zur Risikoabschätzung steht zum Beispiel der Anticholinergic Burden Score (ABS) zur Verfügung. Basierend auf dem ABS sowie einer weiteren Liste wurde der Online-Rechner auf www.acbcalc.com entwickelt.
Durch Eingabe von Arzneistoffen lässt sich schnell ein Score errechnen, der bei einem Wert > 2 ein erhöhtes Risiko für kognitive Einschränkungen, Stürze und Tod anzeigt und zum Substanzwechsel anregen soll. Falls dies nicht möglich ist, sollten die niedrigste wirksame Dosis verwendet und auf anticholinerge Nebenwirkungen geachtet werden.
Generell ist bei Verwendung derartiger Listen zu bedenken, dass jeder einzelnen eine eigene Methodik zugrunde liegt und sich demzufolge unter Umständen inkonsistente Angaben ergeben können.