Rx oder OTC, das ist hier die Frage |
Warum braucht man für so viele Arzneimittel überhaupt ein Rezept? »Die Verschreibungspflicht dient der Patentensicherheit«, sagt Ginnow. »Daher unterliegen neue Wirkstoffe erstmal der Rezeptpflicht.« Das ist sinnvoll, da die neuen Wirkstoffe in der medizinischen Wissenschaft noch nicht allgemein etabliert sind. Durch die Rezeptpflicht werden für einen gewissen Zeitraum eine ärztliche Kontrolle und Überwachung gewährleistet. Zeigt diese Phase, dass die Anwendung sicher ist und sich das Präparat auf dem Markt bewährt, kann der OTC-Switch erfolgen. Die Kriterien, die dazu zu erfüllen sind, hat die Europäische Kommission in einer eigenen Guideline (Switch-Guideline) formuliert. Sind diese erfüllt, kann das Mittel aus der Verschreibungspflicht in die Selbstmedikation wechseln. So geschah es dieses Jahr in Deutschland mit dem Antihistaminikum Desloratadin und 2019 mit Diclofenac als Pflaster und Levocetirizin.
Aber auch der umgekehrte Fall, ein »Re-Switch« ist möglich. Ein prominentes Beispiel ist 2015 Chinin gegen nächtliche Wadenkrämpfe, das unter die Verschreibungspflicht gestellt wurde. »Switches von national zugelassenen Produkten sind Ländersache und der pharmazeutische Unternehmer muss in jedem Land einen Antrag stellen«, erzählt die Expertin. Desloratadin erfuhr zum Beispiel bisher nicht in allen EU-Ländern einen OTC-Switch. In zahlreichen Ländern wie Lettland, Litauen, den Niederlanden und Portugal braucht man weiterhin ein Rezept. In Deutschland ist hingegen das Antiallergikum Fexofenadin nach wie vor rezeptpflichtig, in Österreich und Italien nicht mehr.
Möglich ist es zwar auch, einen »zentralen Switch«, also die EU-weite Überführung in den OTC-Status, zu beantragen. Das ist aber riskant: Wird der Antrag abgelehnt, kann das pharmazeutische Unternehmen ihn in den einzelnen Mitgliedstaaten nicht noch einmal stellen.
»Großbritannien ist bisher in seinem nationalen Recht weitgehend den Vorgaben der EU-Richtlinie gefolgt«, sagt die Geschäftsfeldleiterin Arzneimittelzulassung des BPI. Ob das Land in Zukunft davon abweicht und eigene Regeln machen wird, ist nicht auszuschließen, zurzeit aber noch unklar.
Länder außerhalb der EU haben ihre eigenen Systeme zur Abgabe von Arzneimitteln. Beispiel USA: Auch hier gibt es frei verkäufliche Medikamente und rezeptpflichtige. Beide dürfen in Drugstores und Supermärkten angeboten werden, damit Patienten ständig Zugang zu Arzneimitteln mit erschwinglichen Preisen haben. Rezeptfreie Präparate kann man in den USA typischerweise abgefüllt in Glas- oder Plastikfläschchen kaufen, rezeptpflichtige Medikamente bekommen aber auch die Amerikaner nur gegen Rezept vom Apothekenpersonal. Anders als bei uns gibt es keine festen Packungsgrößen. Stattdessen erhalten Patienten aus Kostengründen immer nur individuelle Arzneimittelmengen, maximal eine Monatsration. Unangenehm für den Patienten ist, dass er für Folge-Medikamente (»Refills«) wiederholt zum Supermarkt oder Drugstore kommen muss.
Wer in Amerika ein freiverkäufliches Arzneimittel kauft, dem mag auffallen, dass einige davon in Deutschland rezeptpflichtig sind. Beispiele sind Fexofenadin oder Kombipräparate für Kinder etwa ein Arzneimittel mit Dextromethorphan und Guaifenesin, also einem Hustenstiller und einem Hustenlöser. Ibuprofen 200 mg können Amerikaner ohne Rezept in Dosen mit bis zu 1000 Tabletten kaufen. Antibiotika gibt es allerdings auch in den USA nur auf Rezept. Das gilt aber nicht für Antibiotika für Tiere. Diese können Verbraucher rezeptfrei in der Drogerie kaufen. Da sie oft preisgünstig sind und kein Arztbesuch erforderlich ist, besteht aber die Gefahr, dass diese Medikamente auch missbräuchlich angewendet werden.
Um zu recherchieren, welchen Abgabestatus ein Medikament in den Mitgliedsländern der EU hat, ist ein Blick in die Melclass-Datenbank des EDQM (European Directorate for the Quality of Medicines & HealthCare) hilfreich. Diese englischsprachige Datenbank zeigt die rechtliche Einstufung von Arzneimitteln hinsichtlich ihrer Abgabebedingungen.