SSRI stellen das Gehirn auf Neuempfang |
Zum Superhelden wird man natürlich nicht gleich, doch Antidepressiva können das Gehirn neu verknüpfen und zu einer anderen Sicht auf die Welt verhelfen. / Foto: Getty Images/Ralf Hiemisch
Im Rahmen einer sechswöchige Doppelblind-Studie der Arbeitsgruppe um Professor Rupert Lanzenberger zur Effektivität von »Antidepressiva in Kombination mit Lernen« an 80 gesunden Probandinnen und Probanden wurden mittels Magnetresonanztomographie spezifische Neurotransmitteraktivitäten sowie Mikrostrukturen, funktionelle und strukturelle neuronale Verknüpfungen beziehungsweise Interaktionen und Aktivitäten von Gehirnarealen gemessen, die bei Gedächtnisprozessen von besonderer Bedeutung sind.
Ein Teil der Probanden lernte anfänglich bei täglichen Konzentrationsübungen, unbekannte Gesichter paarweise zusammenzuführen, ein anderer Teil übte, chinesische Schriftzeichen mit Worten zu verknüpfen. Nach entsprechenden Vergleichsmessungen wurde bei beiden Gruppen eine Phase des Umlernens (Re-Learning) mit nunmehr neuen Gesichtspaaren und Zeichen-Wort-Paaren bei gleichzeitiger Gabe von Escitalopram (10 mg/Tag) oder Placebo eingeleitet.
Die anschließende Messung zeigte, dass die Speicherung der neuen Zusammenhänge bei den Probanden der SSRI-Gruppe im Vergleich zu denen der Placebo-Gruppe zu signifikanten Veränderungen im Gehirn, sprich: zur Erhöhung der Neuroplastizität mit Zunahme der Volumina spezifischer Hirnareale geführt hatte. Damit lasse sich ableiten, dass die Erhöhung der Neuroplastizität ein wesentlicher Wirkungsmechanismus der Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmer-Hemmer (SSRI) ist, erklärt Lanzenberger in einer Mitteilung der Universität Wien.
Zur Therapie depressiver Störungen stehen in Deutschland zahlreiche Medikamente zur Verfügung, die je nach Strukturformel oder Wirkmechanismus in verschiedene Klassen unterteilt werden. Sie wirken jedoch letztlich zum Großteil nahezu ähnlich, indem sie im synaptischen Spalt über verschiedene Mechanismen Einfluss auf die Neurotransmitter- und hier unter anderem die Serotonin- und Noradrenalin-Konzentrationen nehmen.
So auch die sogenannten Selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI), die zu den häufig verschriebenen Antidepressiva zählen. Bekannt ist, dass sie durch die Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin (auch 5-Hydroxytryptamin; 5-HT) im synaptischen Spalt zum Ausgleich intrasynaptischer Neurotransmitter-Dysbalancen und somit zur Stimmungsaufhellung beitragen können.
Die Funktionsweise der SSRI scheint mit dem Drücken der Reset-Taste beim Computer vergleichbar zu sein. »Mitbestimmend, was im Laufe des Lebens im Gehirn gespeichert oder verändert werden soll, drehen SSRI das Gehirn sozusagen auf Neu-Empfang und erleichtern so die Auflösung alter neuronaler Verknüpfungen. Und darum scheint es letztlich bei der Therapie von Depressionen zu gehen, nämlich einmal gelernte Zusammenhänge zu löschen und quasi eine neue Sicht auf die Welt zu gewinnen«, führte der Mediziner weiter aus.
Die erhöhte Neuroplastizität bei SSRI-Gabe habe sich sehr deutlich gezeigt: »Mit Hilfe der Bildgebungsdaten können wir die veränderte Balance zwischen verschiedenen Hirnarealen nachweisen. Manche Gebiete werden stärker beeinflusst als andere und auch die Stärke der Kommunikation zwischen diversen Hirnarealen ändert sich.«
Dieses Wissen, so Lanzenberger, kann zur Entwicklung neuer und noch effektiverer Antidepressiva beitragen. Werde diskutiert, dass wie Antidepressiva auch eine begleitende Psychotherapie zu veränderten Umwelterfahrungen und somit Umlernprozessen führen kann, so müsse auch diese Therapieoption als Chance betrachtet werden, die Plastizität zu fördern.
Im Prinzip könne jedes Gespräch die durch Neurotransmitter gestaltete Mikrostruktur des menschlichen Gehirns verändern. Bei Erwachsenen schlage sich jedoch nicht mehr jede Erfahrung so leicht in den neuronalen Mikrostrukturen nieder wie bei Jugendlichen, Kindern und Babys. »Nie mehr im Leben ist unser Gehirn so aufnahmebereit und verdrahtungswillig«, sagt der Neurowissenschaftler. Nichtsdestotrotz könne es bis ins hohe Alter funktionieren: »Wenn sich beispielsweise unser Arbeitsweg durch eine Baustelle verändert, müssen wir darauf reagieren. Wir lernen um, indem wir uns einen neuen Weg einprägen«, erklärt der Projektleiter das grundlegende Prinzip.
Weltweit und auch in Deutschland erkranken rund 15 bis 17 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einer Depression. Frauen sind circa doppelt so häufig wie Männer betroffen. Bei etwa einem Drittel der Patientinnen und Patienten, so heißt es in der Mitteilung der Medizinischen Universität Wien, sind antidepressive Wirkstoffe aus der Gruppe der SSRI effektiv. Ein weiteres Drittel zeigt zumindest relevante Verbesserungen.