Vergessen erwünscht |
Martin Korte, Professor für Zelluläre Neurobiologie an der Technischen Universität Braunschweig, vergleicht das Vergessen mit »einem gut programmierten Spamfilter«. Vergessen bedeute, Unwichtiges von Wichtigem trennen. Nur weil wir vergessen, können wir Neues entdecken, abstrakt denken und Probleme lösen. Vergessen erlaubt es dem Gehirn, sich auf die jeweils wesentlichen Informationen zu konzentrieren.
»Löschen und Vergessen sind daher keine Fehler oder Aussetzer in der Wahrnehmung, vielmehr gehören sie fest zu den dafür nötigen Abläufen«, schrieb Korte 2018 im »Spektrum der Wissenschaft«. Längerfristig gespeichert werde nur »ein verschwindend kleiner Teil« unserer Erlebnisse. »Schreibgeschützt« sind zum Beispiel oft traumatische Erlebnisse. Und die Erinnerungen ändern sich mit jedem Abruf ein kleines bisschen.
Dominique de Quervain und Andreas Papassotiropoulos von der Universität Basel haben die Rolle der Emotionen bei Erinnerungen 2022 mit Hilfe der Magnetresonanztomographie nachgewiesen. Sie zeigten 1418 Menschen emotionale und neutrale Bilder und zeichneten ihre Hirnaktivität auf. »Sowohl an positive als auch an negative Bilder erinnerten sich die Studienteilnehmenden in einem späteren Gedächtnistest viel besser als an neutrale Bilder«, fasste die Hochschule die im Fachmagazin PNAS veröffentlichten Ergebnisse zusammen.
Ein Stück weit kann man auch steuern, woran man sich erinnern möchte, wie Ann-Kristin Meyer und Roland G. Benoit vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig 2022 gezeigt haben. Wenn man unerwünschte Erinnerungen bewusst unterdrückt, sind sie beim nächsten Erinnern weniger lebhaft und blasser als vorher.
Auch wie wir uns an die Coronazeit erinnern, hängt unter anderem davon ab, welche Emotionen damit verbunden sind, sagt Spieß. Menschen, die Verluste erlitten haben, die einen nahe stehenden Menschen verloren haben oder ihren Job, kommen vermutlich schlechter aus dem Gefühl heraus. Besonders gut abschließen können Menschen, »die der Corona-Krise einen Sinn geben können«, wie Spieß sagt. Das könnten beispielsweise Menschen sein, die stolz darauf sind, dass wir als Gesellschaft das gemeinsam gemeistert haben – oder die sich freuen, dass sie dadurch nun tageweise im Homeoffice arbeiten dürfen.
»Dann speichert man die Krise eher als Lernerfahrung ab.« Mit dem Abstand wird die Erinnerung anekdotisch: Weißt Du noch, wie sie im Café auf den Kaffee immer einen Deckel machen mussten, den dann jeder in den Papierkorb vor dem Laden warf, weil nur »to go« erlaubt war und als »to go« nur zählte, wenn ein Deckel drauf war? Heute finden wir Auswüchse wie diese lustig, damals haben wir uns darüber geärgert. Was dazwischen passiert ist, sagt Psychologin Spieß, ist, »dass wir die Opferrolle verlassen haben«.