Wirkstoffe aus dem Ozean |
Die jüngsten Substanzen, die zugelassen wurden, kamen 2019 beziehungsweise 2020 auf den Markt – alles Wirkstoffe, die in der Krebstherapie zum Einsatz kommen, zum Beispiel beim metastasierenden kleinzelligen Lungenkarzinom, beim Non-Hodgkin-Lymphom, dem metastasierten Urothelkarzinom oder dem rezidivierten oder refraktären multiplen Myelom. Interessanterweise handele es sich bei dreien davon um Substanzen, die zwar aus Makroorganismen – in diesem Fall aus Mollusken – gewonnen wurden, aber eigentlich Inhaltsstoffe von Cyanobakterien seien, sagt der Pharmazeut.
Hier zeigt sich ein Trend. Lagen früher die Makroorganismen im Fokus der Forschung, konzentriert man sich heute mehr und mehr auf die mit ihnen assoziierten Mikroorganismen. »Man hat erkannt, dass in vielen Fällen die Mikroorgansimsen die eigentlichen Quellen für die interessanten Wirkstoffe sind, die man untersucht.«
Bei den neuen Wirkstoffen sei zudem eine interessante Entwicklung zu beobachten, so der Pharmazeut. Es handele sich nicht mehr um das Toxin an sich, sondern um Antikörper-Toxin-Konjugate (ADC, Antibody Drug Conjugate). »Die isolierten Toxine werden an Antikörper gekoppelt, die bestimmte Oberflächenstrukturen von Krebszellen erkennen und an diese andocken. Krebszellen phagozytieren den Antikörper-Toxin-Komplex, dann spalten zelleigene Proteasen die Toxine im Inneren der Krebszelle ab, diese werden freigesetzt und zerstören die Krebszelle«, erklärt der Experte. Eine sehr selektive Vorgehensweise. »Man kann damit also die Krebszellen direkt ansteuern und so versuchen, die Nebenwirkungen, die bei der generellen Vergiftung der Zelle entstehen, wie man sie von der Chemotherapie her kennt, auszuschließen.«
Und noch einen weiteren Vorteil bieten Mikroorganismen: Hat man sie erst einmal als Wirkstoffproduzenten identifiziert, lassen sie sich gut kultivieren. Mit Schwämmen oder Seescheiden sei dies nur begrenzt, wenn überhaupt, möglich. Auch wachsen diese nur sehr langsam. »Das bedeutet, bis man sie abernten kann und die benötigten Mengen an Substanz hat, die man bei einer Zulassung braucht, vergehen Jahrzehnte«, so der Pharmazeut. Bei Mikroorganismen mit ihrem exponenziellen Wachstum sei das ganz anders. »Heute reicht es, wenn man von einem Schwamm ein paar Gramm Biomasse entnimmt. Daraus kann man Hunderte von Mikroorganismen isolieren und auf ihre Wirkung hin untersuchen.«
Und noch ein Pluspunkt: Bei Mikroorganismen lassen sich laut Proksch Gene, die für die Biosynthese einer bestimmten Substanz stehen, leichter identifizieren. »Bei ihnen sind die Gene, die für die Produktion einer Substanz erforderlich sind, hintereinander auf dem Chromosom angeordnet, in sogenannten Clustern. Bei Makroorganismen sind sie häufig verstreut und liegen an unterschiedlichen Stellen eines Chromosoms oder auf verschiedenen Chromosomen.« Es sei bei Bakterien also einfacher, solche Gen-Cluster zu finden, zu isolieren und dann möglicherweise auf einen leichter zugänglichen Mikroorganismus wie E. coli zu übertragen. »Wenn man die Gene hat, kann man versuchen, sie gezielt zu verändern und dadurch bestimmte Eigenschaften der Substanzen zu optimieren.«
Doch bei aller Technik und allem Fortschritt: Unter Wasser müssen sich Forscher auf der Suche nach neuen Wirkstoffen noch immer begeben. »Der Zugang zum Meer ist nach wie vor essenziell«, sagt Proksch.