Zu nett sein schadet der Psyche |
Studienergebnisse aus den USA zufolge sollen nette und freundliche Menschen oft eher die unbeliebteren sein. Doch Nein sagen ist oft nicht einfach und muss geübt werden. / Foto: Steve Debenport
Zumindest dann nicht, wenn der Antrieb dahinter ist, es immer allen anderen recht zu machen. Für dieses Verhaltensmuster gibt es auch einen Namen: People Pleasing, übersetzt: »Menschen gefallen«. »Wenn ich immer den Wünschen der anderen nachgebe, richte ich mich nicht nach dem Kompass meiner eigenen Bedürfnisse«, erklärt der Karriereberater und Autor Martin Wehrle. Das Problem: Wir haben nicht unendlich viel Zeit und Energie. Wenn die Chefin um Überstunden bittet oder der Nachbar um Hilfe beim Streichen der Wände, »dann geht das von meinem Zeit- und meinem Energiekonto ab«, sagt Martin Wehrle.
Dabei ist es für die psychische Gesundheit elementar, dass das Energiekonto nicht ständig im Minus ist. Denn dann ignorieren wir unsere Bedürfnisse, wichtige Signale von Körper und Seele. Vernachlässigen wir sie, steigt das Risiko für psychische Erkrankungen. Selbstlose und verantwortungsbewusste Menschen sind daher häufiger von einem Burn-Out betroffen. Das beobachtet auch Andreas Hagemann, Psychotherapeut und Ärztlicher Direktor der Haku-Privatkliniken Eschweiler und Merbeck.
Das heißt aber nicht, dass Nettsein per se uns auf Dauer schadet. Laut Martin Wehrle gibt es das Konzept der gesunden Nettigkeit, das der italienische Soziologe und Ökonom Vilfredo Pareto (1848-1923) formuliert hat. Gesunde Nettigkeit heißt: Es geht mindestens einem Beteiligten besser und keinem schlechter.
»Wenn ich jemandem einen Gefallen tue und mir geht es mit diesem Gefallen gut, dann gibt es kein Problem«, fasst Wehrle zusammen. »Aber: Wenn es mir danach schlecht geht, weil ich über meine Grenzen gegangen bin, weil ich müde bin – dann geht die Rechnung nicht auf.«
Allen gefallen, niemanden verärgern: »People Pleasern« ist das so wichtig, weil sie annehmen, nur so gemocht zu werden. Martin Wehrle verweist allerdings auf Studienergebnisse aus den USA, wonach nette und freundliche Menschen oft eher die unbeliebteren sind.
Ein Grund: Die weniger Netten fühlen sich durch die Netten unter Druck gesetzt. »Stellen Sie sich vor, Sie stehen im Supermarkt in der Kassenschlange und hinter Ihnen lässt jemand einen anderen vor«, sagt Wehrle. »Dann fühlen Sie sich vielleicht unter Druck, dasselbe auch zu tun.« Außerdem werde netten Menschen eher unterstellt, dass sie eine heimliche Agenda hätten – also ihre Nettigkeit einsetzen, etwa um im Beruf voranzukommen.
Apropos Beruf: Andreas Hagemann beobachtet, dass Ja-Sager auf der Arbeit besonders gern belastet werden. »Wenn ich etwas erledigt haben möchte, gehe ich zuerst zu der Person, von der ich erwarte, dass sie mir die Aufgabe abnimmt. Hierdurch nimmt natürlich auch der Erwartungsdruck zu, sodass es zu einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale kommt.« Das heißt: Ein Nein wird umso schwieriger, je öfter man Ja gesagt hat. Laut Hagemann können Betroffene so in eine Opferrolle geraten: Ihre Nettigkeit kann von ihrem Umfeld ausgenutzt werden.