Zu wenig Geld für Essen |
All diese Auswirkungen von Ernährungsarmut sind bekannt, in Deutschland aber nicht ausreichend durch Studien quantifizierbar. Das gilt auch für die konkreten Folgen, die eine mangelhafte Ernährung auf die Gesundheitssituation der Betroffenen hat. Untersuchungen, bei denen der sozioökonomische Status berücksichtigt wurde, zeigten laut Linseisen jedoch deutlich einen Zusammenhang mit einem niedrigen sozioökonomischen Status und dem Auftreten von Adipositas. »Da spielen Faktoren wie Einkommen, Bildung und Ausbildung eine Rolle. Und es ist sehr deutlich zu sehen, dass gerade bei Kindern sehr viel häufiger Adipositas besteht als bei Gleichaltrigen aus höherer Schicht«, betont der Experte.
Eine mögliche Erklärung für das Phänomen ist, dass armutsgefährdete Menschen mehr energiereiche Lebensmittel mit viel Zucker und Fett kaufen, um satt zu werden. So steigt einerseits die Energiezufuhr, andererseits werden zu wenige Nährstoffe aufgenommen. Auf diesen Zusammenhang weist auch die MEGA_kids-Studie hin. Sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene verzehrten im Mittel mehr Fleisch und Wurstwaren sowie mehr nährstoffarme und energiedichte Lebensmittel wie etwa süße und fettreiche Snacks als empfohlen. Im Gegensatz dazu kamen bei den Teilnehmenden weniger Obst, Gemüse, Fisch und Getreideprodukte auf den Tisch als empfohlen. Welche Auswirkungen dies langfristig auf die Entwicklung bei Kindern hat, können Forscher gegenwärtig nicht beantworten. Klar ist jedoch, dass eine gesundheitsfördernde Ernährung mit allen essenziellen Nährstoffen wichtig für ihre körperliche und geistige Entwicklung sowie ihre Konzentrations- und Leistungsfähigkeit ist.
Bleibt die Frage, wie sich die Situation in Deutschland verbessern lässt. Auch hier betont Linseisen: »Zunächst bräuchten wir wirklich ein Monitoringsystem, das Ernährungsarmut erfasst.« Dennoch gibt es bereits klare Forderungen, die der WBAE in seiner Stellungnahme formuliert hat – nicht nur für Krisenzeiten. Linseisen fasst die wichtigsten Punkte zusammen: »Dazu gehört, eine qualitativ hochwertige Kita- und Schulverpflegung und diese schrittweise beitragsfrei zu stellen. So bekommen von Ernährungsarmut betroffene Kinder zumindest einen guten Grundstock. Ebenso sollten Tafeln und andere karitative Angebote stärker durch staatliche Maßnahmen unterstützt werden. Das kann auch eine infrastrukturelle Unterstützung sein oder der Abbau von Hindernissen für Lebensmittelspenden. Außerdem müssen die Kosten einer gesundheitsfördernden Ernährung in der Berechnung der staatlichen Grundsicherung berücksichtigt werden – ich spreche da vom Bürgergeld oder auch von der geplanten Kindergrundsicherung, die nun leider nicht kommt.«
In der MEGA_kids-Studie wurden die Teilnehmenden selbst nach möglichen Maßnahmen gefragt. »Die Betroffenen haben sich tatsächlich überwiegend verhältnispräventive Maßnahmen gewünscht«, erläutert Simmet. »Dazu gehörten neben dem Zugang zu warmen Mahlzeiten in Kita und Schule auch eine Preissenkung für nährstoffreiche und gesunde Lebensmittel und ein Werbeverbot für Süßigkeiten.« Da die Kosten des Schulessens ein häufig genannter Grund waren, dieses nicht in Anspruch zu nehmen, plädiert auch Simmet für kostenfreie Mahlzeiten oder einen unbürokratischeren Zugang zu Zuschüssen. Ganz außer Acht lassen dürfe man aber natürlich auch nicht die Verhaltensprävention – also die Maßnahmen, die betroffene Familien selbst in Angriff nehmen können. Die teilnehmenden Familien gaben in der Studie zwar an, zum Beispiel gut kochen zu können. »Ein Ansatz wäre aber zum Beispiel zu vermitteln, welche guten Alternativen es zu Fleisch gibt oder zu energiedichten, nährstoffarmen Lebensmitteln«, so Simmet. Wichtig sei bei solchen Projekten jedoch, die Lebenssituation der Familien zu berücksichtigen und nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern einzubeziehen. »Das könnte zum Beispiel über Schulen, aber auch über Tafeln laufen.«
Klar ist, es gibt in Deutschland noch viel zu tun. Angefangen von mehr Forschung in diesem Bereich bis zur Bereitstellung von finanziellen Mitteln und der Umsetzung konkreter Projekte. Dass dieser Prozess sich zäh gestaltet, liegt unter anderem daran, »dass immer verschiedene Ministerien beteiligt sind und die Zuständigkeiten teils beim Bund und teils bei den Ländern oder Kommunen liegen. Ich würde mir wünschen, dass das schneller geht«, betont Linseisen. Er zeigt sich aber auch leicht optimistisch: »Ich denke, dass das Problem seitens der Politik erkannt wurde. Die Ernährungsstrategie der letzten Bundesregierung war ein erster Schritt, jetzt muss der Prozess natürlich weitergehen. Ich sehe aber schon, dass die Ministerien im Prinzip bereit sind, etwas zu tun.«