PTA-Forum online
Experten fordern neue Kriterien

Adipositas-Diagnose nicht nur auf BMI stützen

An der Definition von Adipositas gibt es Kritik – auch weil manche Menschen zwar stark übergewichtig, aber trotzdem weitgehend gesund sind. Eine Expertenrunde schlägt Anpassungen vor. 
dpa
15.01.2025  14:00 Uhr

Derzeitige Diagnosen von Adipositas stützen sich auf den sogenannten Body-Mass-Index (BMI) – der ist aber Experten zufolge kein zuverlässiges Maß vor allem für die Gesundheit eines Menschen. Eine Medizinergruppe schlägt vor, die Diagnoserichtlinien für Adipositas grundlegend zu überarbeiten. Neben dem BMI sollten Daten zum Körperfett – etwa zum Taillenumfang oder als direkte Fettmessung – herangezogen werden, empfiehlt die Gruppe im Fachjournal »The Lancet Diabetes & Endocrinology«.

Für die Berechnung des BMI wird das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Meter zum Quadrat geteilt. Derzeit gilt ein BMI von über 30 bei Menschen europäischer Abstammung als Hinweis für Fettleibigkeit. Schon seit längerer Zeit wird kritisiert, dass der Wert kein direktes Maß für Fett ist, dessen Verteilung im Körper nicht widerspiegelt und keine Informationen über Gesundheit und Krankheit auf individueller Ebene liefert.

An bestimmten Stellen gefährlicher

»Sich bei der Diagnose von Fettleibigkeit allein auf den BMI zu verlassen, ist problematisch, da manche Menschen dazu neigen, überschüssiges Fett an der Taille oder in und um ihre Organe wie die Leber, das Herz oder die Muskeln zu speichern«, erklärte Mitautor Robert Eckel von der University of Colorado in Aurora. Das bedeute ein höheres Gesundheitsrisiko als überschüssiges Fett direkt unter der Haut in Armen, Beinen oder in anderen Körperbereichen. Auch hätten Menschen mit überschüssigem Körperfett nicht immer einen BMI, der auf Fettleibigkeit hinweise, sodass ihre Gesundheitsprobleme unbemerkt bleiben könnten.

Die Expertengruppe empfiehlt, statt nur den BMI einen der drei folgenden Diagnosewege zu nutzen:

  • mindestens eine Messung von Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe zusätzlich zum BMI,
  • mindestens zwei Messungen zu Taillenumfang, Verhältnis Taille-Hüfte oder Verhältnis Taille-Größe unabhängig vom BMI
  • oder die direkte Messung des Körperfetts zum Beispiel durch eine Knochendichtemessung unabhängig vom BMI.

Bei Menschen mit einem BMI über 40 könne allerdings ohne weitere Bestätigung von übermäßigem Körperfett ausgegangen werden. 

Adipositas als Krankheit

Neben den neuen Diagnoserichtlinien schlagen die Experten um Francesco Rubino vom King's College London zwei neue Diagnosekategorien für Adipositas vor: »klinische Adipositas« für die chronische, mit einer anhaltenden Funktionsstörung von Organen einhergehende Krankheit und »präklinische Adipositas« für die vorangehende Phase mit Gesundheitsrisiken, aber noch keiner anhaltenden Krankheit. Hintergrund sei unter anderem, dass in beiden Phasen unterschiedliche therapeutische Strategien erforderlich seien.

Der Vorschlag der »Commission on Clinical Obesity« mit Medizinern verschiedener Fachgebiete wird von 76 Fachgesellschaften und Patientenvertretungen weltweit unterstützt, wie es in dem Beitrag heißt. Rubino, Vorsitzender der Kommission, sagte: »Die Frage, ob Adipositas eine Krankheit ist, führt in die Irre, weil sie von einem unplausiblen Alles-oder-Nichts-Szenario ausgeht, bei dem Adipositas entweder immer eine Krankheit ist oder nie eine Krankheit.« Die Realität sei differenzierter. Bei einigen fettleibigen Menschen bleibe die normale Funktion der Organe und die allgemeine Gesundheit langfristig erhalten, während andere direkt schwere Krankheiten entwickelten.

Versorgung optimieren

»Wenn Adipositas nur als Risikofaktor und niemals als Krankheit betrachtet wird, kann dies dazu führen, dass Menschen, die allein aufgrund ihrer Adipositas erkrankt sind, der Zugang zu einer zeitnahen Versorgung verwehrt wird«, führte Rubino aus. »Andererseits kann eine pauschale Definition von Adipositas als Krankheit zu einer Überdiagnose und einem ungerechtfertigten Einsatz von Medikamenten und chirurgischen Eingriffen führen, die dem Einzelnen schaden und der Gesellschaft enorme Kosten verursachen können.«

Menschen mit »klinischer Adipositas« benötigten schnellen Zugang zu Therapien, solche mit »präklinischer Adipositas« individuelle Strategien für ein vermindertes Risiko für Erkrankungen. Die neue Unterteilung könne eine rationale Zuweisung von Gesundheitsressourcen und eine faire, medizinisch sinnvolle Priorisierung der verfügbaren Behandlungsoptionen erleichtern. Die Relevanz sei groß: Es gebe geschätzt weltweit mehr als eine Milliarde Menschen mit Adipositas, heißt es in »The Lancet Diabetes & Endocrinology«.

Dabei spiele Fettleibigkeit verstärkt schon bei Kindern und Jugendlichen eine Rolle. 1975 waren demnach nur etwa 4 Prozent der 5- bis 19-Jährigen weltweit übergewichtig oder fettleibig, im Jahr 2016 bereits mehr als 18 Prozent. Etwa die Hälfte der Kinder mit Fettleibigkeit leide während des gesamten Lebens an Adipositas.

Lebenslange Folgen

Bedenklich sei das unter anderem deshalb, weil Adipositas bei Kindern und Jugendlichen das spätere Risiko für Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck, Schlaganfall, bestimmte Arten von Krebs sowie Lungen- und Nierenerkrankungen erhöhe. Je höher der BMI in der Kindheit, desto höher sei das Risiko für solche potenziell lebensverkürzenden Probleme im Erwachsenenalter.

Die frühe Diagnose und Behandlung von Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen müsse oberste Priorität für die Gesundheitssysteme haben, um die Belastung für den Einzelnen, die Gesellschaft und die Volkswirtschaft zu verringern, betont die Gruppe.

Zweifel am Mehrwert für Betroffene

Gerade hier sieht Thomas Reinehr von der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln – Universität Witten/Herdecke wenig Mehrwert durch die Vorschläge, zumal Hinweise auf psychische Probleme fehlten. Ein Mensch könne gerade als Kind oder Jugendlicher, auch wenn er körperlich gesund sei, sehr unter Hänseleien leiden. »Nach der vorgeschlagenen Definition würde man aber keine Therapie bei ihm durchführen können, da er nicht ›krank‹ ist.«

Dass Kostenträger Behandlungsmaßnahmen bei Übergewicht nach der vorgeschlagenen Definition nur noch übernehmen, wenn eine Folgeerkrankung vorliegt, sei auch in anderer Hinsicht problematisch: Es sei effektiver, Übergewicht zu behandeln, bevor Folgeerkrankungen auftreten, die wie die koronare Herzkrankheit irreversibel sein könnten. Und übergewichtige Kinder und Jugendliche sprächen sehr viel besser auf Lebensstiländerungen an als extrem adipöse Kinder und Jugendliche.

Eine Ausrichtung an den Vorschlägen der Kommission werde dazu führen, dass noch weniger Menschen mit Übergewicht als bisher eine Therapie von den Krankenkassen bezahlt bekommen, befürchtet Reinehr. Die Anzahl adipöser Menschen in Statistiken werde sinken – was dann fälschlicherweise so wirke, als habe sich das Übergewichtsproblem unserer Gesellschaft verringert.

Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
SENDEN
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.
TEILEN
Datenschutz

Mehr von Avoxa