Kräuterhexen und Erbschleicher |
Angela Kalisch |
29.03.2021 16:00 Uhr |
Ein weiteres interessantes Detail aus Schneewittchen ist die Tatsache, dass das Gift aus Kamm und Apfel das Mordopfer zunächst eindeutig tot erscheinen lässt, es aber auf wundersame Weise wieder quicklebendig wird. Ähnliches widerfährt dem berühmtesten Liebespaar der Weltliteratur: Romeo und Julia. Um der Ehe mit dem ungeliebten Grafen Paris zu entgehen, trinkt Julia ein nicht näher benanntes Destillat, das sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Der Plan, nach dem Aufwachen mit ihrem Geliebten Romeo zu fliehen, geht gründlich schief, denn Romeo erfährt nichts von diesem Täuschungsmanöver, ihn erreicht nur die Nachricht von Julias Tod. Aus Kummer kauft er sich bei einem Apotheker ein schnell wirkendes Gift, welches er in der Gruft an der Seite der vermeintlich leblosen Julia zu sich nimmt. Denkbar schlechtes Timing, denn kurz darauf erwacht Julia, sieht den toten Romeo neben sich liegen, greift zum Dolch und setzt ihrem Leben ein Ende.
In einem weiteren Drama Shakespeares wird Gift für einen ausgesprochen heimtückischen Mord eingesetzt: Hamlets Vater, König von Dänemark, wird im Schlaf von seinem eigenen Bruder getötet, indem dieser ihm eine Flüssigkeit mit Schierlingskraut ins Ohr tröpfelt. Der Mörder ehelicht kurze Zeit später die Witwe und sichert sich so den Thron. Der Verblichene sucht fortan Hamlet des Nachts als Geist auf und beauftragt ihn, den ehrlosen Mord zu rächen. Auch dieser Geschichte ist kein Happy End vergönnt: Wenn der Vorhang fällt sind fast alle tot, gestorben durch präparierte Schwerter oder vergiftete Trinkbecher.
Ohne die sachdienlichen Hinweise des Geists wäre der Tod von Hamlets Vater auf einen Schlangenbiss zurückgeführt worden und der Mörder unentdeckt geblieben. Ein Giftmord bot also immer auch die Chance, die Tat zu vertuschen, die Todesursache zu verschleiern und ungestraft davonzukommen. Die Herausforderung bestand lediglich darin, das Gift entsprechend zu platzieren und abzuwarten.
Wer sich umgekehrt von Feinden bedroht fühlte, konnte nie ganz sicher sein, ob Speisen oder Getränke möglicherweise vergiftet waren. Viele Herrscher und Päpste bedienten sich deshalb eines Vorkosters, um sich von der Unbedenklichkeit der aufgetragenen Gerichte zu überzeugen. Auch der Brauch, mit Trinkbechern anzustoßen, könnte auf diese Vorsichtsmaßnahme zurückzuführen sein: Beim zünftigen Aneinanderstoßen der Becher schwappte die Flüssigkeit von einem zum anderen Trinkgefäß, sodass sich verdächtig machte, wer in der Runde nicht gleich einen kräftigen Schluck zu sich nahm.