Krankheit mit 1000 Gesichtern |
Bei neun von zehn Betroffenen verläuft die Erkrankung zumindest zu Beginn schubförmig. Die Symptome treten plötzlich auf und bilden sich nach ein paar Wochen teilweise oder ganz zurück. Manchmal geht diese Form allerdings nach einigen Jahren in eine sogenannte sekundäre Progredienz über, also eine schleichende Zunahme der Beschwerden. Von einer primär progredienten MS sprechen Mediziner, wenn sich die Symptome von Anfang an langsam, aber kontinuierlich verschlechtern. Als Pseudo-Schub wird eine akute Verschlimmerung bezeichnet, die durch äußere Einflüsse ausgelöst wird – zum Beispiel durch Hitze (sogenanntes Uhthoff-Phänomen), einen Infekt oder starke Erschöpfung.
Beim akuten Schub wird als Standardtherapie hoch dosiertes Cortison intravenös verabreicht, um das überaktive Immunsystem und Entzündungsreaktionen zu bremsen. / © Adobe Stock/LStockStudio
Lina erholte sich nach dem ersten Schub wieder fast vollständig. »Stück für Stück holte ich mir meine Normalität, meinen Körper, meine Seele und meinen Alltag wieder zurück«, erzählt sie. Das ging jedoch nur mithilfe starker Medikamente. In einer Spezialklinik für MS erhielt sie mehrere Tage lang hoch dosiertes Methylprednisolon als intravenöse Infusion. Diese Cortison-Stoß-Therapie hemmt das überaktive Immunsystem und die Entzündungsreaktionen. Sie gilt als Standardbehandlung bei einem akuten MS-Schub. Führt sie nicht zum Erfolg, besteht in schweren Fällen die Möglichkeit, die nervenschädigenden Immunkomponenten in einem spezialisierten Zentrum durch eine Blutwäsche (Plasmapherese) zu entfernen.
Im Gegensatz zur kurzfristigen Schubbehandlung soll die Verlaufstherapie das Fortschreiten der MS verlangsamen und weiteren Schüben vorbeugen. Die dabei eingesetzten Medikamente unterdrücken das überaktive Immunsystem. Ihre volle Wirksamkeit setzt allerdings meist erst nach einem halben Jahr ein. Je nach Substanz lässt sich die Schubrate im Schnitt um bis zu 80 Prozent verringern; ein Teil der Behandelten bleibt über mehrere Jahre schubfrei. Allerdings schlägt nicht jedes Präparat bei jedem Patienten gleich gut an.
In den vergangenen Jahren kamen zahlreiche neue Immuntherapeutika auf den Markt, die die MS-Behandlung nicht nur wirkungsvoller, sondern zum Teil auch einfacher gemacht haben. Als altbewährte Basismedikamente für den schubförmig remittierenden Verlauf gelten Beta-Interferone und Glatirameracetat (zum Beispiel Copaxone®), die seit über 20 Jahren zum Einsatz kommen. Die Patienten spritzen sie sich selbst unter die Haut. Seit den 2010er-Jahren stehen mit Dimethylfumarat (Tecfidera®) und Teriflunomid (wie Aubagio®) auch erste orale Therapieoptionen zur Verfügung. Zusammen mit Diroximelfumarat (Vumerity™), einer Weiterentwicklung von Dimethylfumarat, werden diese Substanzen der Wirksamkeitskategorie 1 zugeordnet. Sie können die Zahl der Schübe im Vergleich zu Placebo um 30 bis 50 Prozent verringern.
Durchschnittlich 50 bis 60 Prozent weniger Schübe erreichen Präparate aus der Wirksamkeitskategorie 2. Sie kommen zum Einsatz, wenn die Erstlinientherapie nicht ausreichend wirksam war oder ein hochaktiver Krankheitsverlauf vorliegt – wenn zum Beispiel viele Schübe in kurzer Zeit auftreten. Bei der Behandlung mit Cladribin (Mavenclad®) beschränkt sich die Tabletteneinnahme auf insgesamt vier Wochen innerhalb von zwei Jahren. Oft ist danach nur noch höchstens ein weiterer Therapiezyklus erforderlich. Fingolimod (wie Gilenya®) und seine Nachfolger Ozanimod (Zeposia®) und Ponesimod (Ponvory®) müssen Patienten dagegen dauerhaft einnehmen. Sie verhindern, dass bestimmte weiße Blutkörperchen die Lymphknoten verlassen und im Nervensystem Schaden anrichten können. Allerdings kann das auch die Abwehr von Infektionen beeinträchtigen.
Für schwere Verlaufsformen stehen seit einigen Jahren monoklonale Antikörper der Wirksamkeitsklasse 3 zur Verfügung. Sie binden an verschiedene Oberflächenproteine von Immunzellen und setzen diese gezielt außer Kraft. Das verringert die Schubrate im Durchschnitt um mindestens 60 Prozent im Vergleich zu Placebo. Zu den seltenen schweren Nebenwirkungen zählen lebensbedrohliche Infektionen und Herz-Kreislauf-Schäden. Meist werden die Antikörper alle paar Wochen oder Monate als Infusion verabreicht – zum Beispiel Alemtuzumab (Lemtrada®) oder Ocrelizumab (Ocrevus®). Andere, wie Ofatumumab (Kesimpta®), können sich die Patienten auch selbst injizieren. Seit Februar 2024 neu auf dem deutschen Markt ist Ublituximab (Briumvi®), das alle sechs Monate infundiert wird.