Viel mehr als erschöpft |
Barbara Döring |
12.05.2023 08:30 Uhr |
Die krankhafte Erschöpfung bei der Multisystemerkrankung ME/CFS lässt sich auch durch Schlaf nicht bessern. / Foto: Getty Images/Basak Gurbuz Derman
Er habe es bereut, sich für den Begriff »Chronic Fatigue Syndrome« entschieden zu haben, soll der amerikanische Arzt und einer der Namensgeber Professor Dr. Anthony L. Komaroff gesagt haben. Denn der französische Begriff Fatigue, der so viel bedeutet wie Müdigkeit, Ermüdung oder Erschöpfung, beschreibt nicht das, was die schwer verlaufende chronische Krankheit ME/CFS im Kern ausmacht. Fatigue ist lediglich ein Begleitsymptom, das auch bei vielen anderen Krankheiten auftreten kann. Vielmehr handelt es sich um eine Multisystemerkrankung, bei der die Regulation zentraler Kontrollsysteme des Körpers gestört ist: des Immunsystems, des autonomen Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels. Fatigue spiegelt weder das Ausmaß der Symptomatik wider, noch die Folgen, mit denen die Patienten konfrontiert sind: Ein Großteil kann seiner Arbeit nicht mehr nachgehen und ist auf Pflege angewiesen.
Auch die deutschen Bezeichnungen »Chronisches Erschöpfungssyndrom« oder »Chronisches Müdigkeitssyndrom« werden von Erkrankten wie auch der ME/CFS-Organisation als unzutreffend wahrgenommen, da sie ebenfalls den Fokus auf die Begleitsymptome legen. Inzwischen wird weltweit meist die Kombination ME/CFS verwendet, die für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom steht. Der Begriff Myalgische Enzephalomyelitis ist vor allem im englischen Sprachraum üblich, wurde im Rahmen einer Epidemie in den 50er-Jahren geprägt und bezieht sich auf die neurokognitive Symptomatik und Muskelschmerzen.
Die ME/CFS gehört zu den am häufigsten stigmatisierten neurologischen Erkrankungen. Nicht nur von ihrem Umfeld werden Patienten oft missverstanden und die Krankheit verharmlost. Auch viele Ärzte sind mit dem Krankheitsbild nicht vertraut, sodass die Patienten oft keine oder lange Zeit keine richtige Diagnose erhalten. Dabei ist die ME/CFS nicht selten. In Deutschland sind nach Schätzungen 300.000 Menschen betroffen. Experten rechnen damit, dass aufgrund der Coronapandemie die Krankheitsfälle in der nächsten Zeit bis auf das Doppelte ansteigen könnten. Denn ein Teil der Post-Covid-Patienten erfüllt ebenfalls die Kriterien eines ME/CFS. Das Hauptkennzeichen ist dabei eine unverhältnismäßig starke, krankhafte Erschöpfung und eine Symptomverschlechterung, die einer körperlichen oder geistigen Anstrengung folgt und die sich durch längere Pausen oder Schlaf nicht bessern lässt. Man spricht dabei von der postexertionellen Malaise, die mitunter mehrere Tage bis Wochen anhält.