Wenn das Vorstellungsvermögen fehlt |
Worin Afantasie ihren Ursprung hat, wird noch erforscht. Eine These sei, dass bei Menschen mit Afantasie die Weiterleitung von Signalen aus dem Frontallappen des Gehirns (wo die Entscheidung entsteht, mentale Bilder zu generieren) zur Sehrinde (dem visuellen Kortex) gestört ist, erläutert Monzel. Wahrscheinlich habe Afantasie aber verschiedene Ursachen. So gebe es Menschen, bei denen das Phänomen angeboren scheint, und andere, die es im Lauf des Lebens erworben haben. Und es gibt eindeutig eine familiäre Komponente: Wenn die Geschwister einer Person betroffen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine Afantasie für diese rund zehnmal höher. Schließlich kann Afantasie auch Folge von Verletzungen im Gehirn durch Krankheit oder Unfall (organische Afantasie) oder auch von extremen psychischen Belastungen (psychogene Afantasie) sein. »So sind einige Fälle bekannt, wo Menschen nach traumatischen Erlebnissen, etwa einem Missbrauch, ihr Vorstellungsvermögen verloren haben«, nennt Monzel als Beispiel. Dahinter könnte ein Schutzmechanismus des Gehirns stehen: Die mit dem Trauma verbundenen, schrecklichen Bilder sind nicht abrufbar und können folglich keine negativen Emotionen auslösen.
Klinisch relevant sei das Phänomen der Afantasie kaum, bemerkt Monzel. »Betroffene, die schon immer damit leben, haben ja gar keinen Vergleich, sie kompensieren die Leerstelle mithilfe anderer Fähigkeiten.« Der Forscher weiß, wovon er spricht, denn er ist selbst Afantasist und hat das erst als Student bemerkt, als er zufällig auf eine Kommilitonin traf, die auch betroffen war. Sie erklärte ihm, dass die allermeisten Menschen, die sagten, sie könnten sich etwas »vorstellen«, damit meinten, dass sie tatsächlich in der Lage waren, vor ihrem inneren Auge Bilder erstehen zu lassen. Damit war sein Forschungsdrang in diese Richtung geweckt.
Rund zwei Drittel derjenigen, die von ihrer Afantasie wissen, leben Befragungen zufolge davon ziemlich unbeeindruckt und fühlen sich in ihrem Alltag nicht beeinträchtigt. Ein Drittel aber leide darunter und fühle sich manchmal belastet, berichtet Monzel. Starke funktionelle Einschränkungen und einen hohen Leidensdruck empfänden allerdings nur wenige. In den meisten Fällen helfe Betroffenen allein schon die Aufklärung über das Phänomen und die Möglichkeit, ihre Eigenheit zu verstehen.
Eine Eigenheit, die durchaus Einschränkungen mit sich bringen kann. So berichten Afantasisten, dass sie von Schlüsselerlebnissen ihres Lebens wie etwa ihrer Einschulung oder ihrer Hochzeit keine Bilder verinnerlicht hätten, die ihnen die Erinnerung daran erleichterten. In einer Untersuchung der Forschungsgruppe Afantasie am Institut für Psychologie der Universität Bonn zeigte sich deutlich, dass sich Afantasisten an weniger Details aus ihrer Vergangenheit erinnern konnten als Menschen mit durchschnittlicher Vorstellungskraft. Auch im verbalen und visuellen Kurzzeitgedächtnis hatten Personen mit Afantasie leichte Probleme: Sie merkten sich Wörter und Formen etwas schlechter als eine Kontrollgruppe.
»Diese Ergebnisse haben wir im Rahmen der Theorie der dualen Codierung erklärt«, erläutert Monzel. Demnach lernt es sich am effizientesten, wenn man beispielsweise Vokabeln nicht nur im Geist aufsagt, sondern sich die zugehörigen Objekte auch bildlich vorstellt – was Afantasie-Betroffene ja kaum oder gar nicht können. Auch die Gesichtserkennung ist bei ihnen nach den Erkenntnissen der Bonner Forschungsgruppe etwas beeinträchtigt; sie merken sich Gesichter und Personen deshalb meist kontextbezogen und anhand besonderer Merkmale – beispielsweise ein auffälliges Tattoo – und hätten dann zum Beispiel Schwierigkeiten, wenn sie eine Kollegin nicht am Arbeitsplatz, sondern im Kino träfen.