Arzneimittel kindgerecht dosieren |
Technologen setzen jedenfalls auf orodispersible Arzneiformen, weil sie in der Mundhöhle schnell zerfallen und dabei entweder den Wirkstoff selbst oder partikuläre Wirkstoffträger freisetzen. Der Vorteil liegt in der einfachen Handhabung, kein zusätzliches Wasser wird benötigt. Der Nachteil liegt in der Feuchtigkeitsempfindlichkeit des Produkts und – wie Kircher weiß – in der schlechten Beladungskapazität. Diese Technologie kommt mit den Fluoretten® schon länger zur Kariesprophylaxe für Kinder zum Einsatz. Auch klassische Schmelztabletten, sogenannte Lyophilisate, eignen sich im Grunde gut für Kinder. Dass es so wenige Präparate in dieser Formulierung speziell für Kinder gibt (zum Beispiel Nurofen® Schmelztabletten Lemon gegen Schmerzen oder Aerius® Schmelztabletten bei Allergie), mag daran liegen, dass sie relativ teuer in der Herstellung sind.
Die Akzeptanz von sogenannten Minitabletten, die Kircher »modifizierte Globuli« nennt, scheint bei den kleinen Patienten noch besser zu sein. Minitabletten mit einem Durchmesser von 2 Millimetern (siehe Abbildung) und schnell auflösende Pellets gehören zu den technologischen Neuentwicklungen, die bei Kindern gut appliziert werden können. In Studien etwa an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf wurden die kleinen Tabletten bei kleinen Patienten mit Erfolg getestet: Mehr als drei Viertel der vier- und fünfjährigen Kinder konnten in einer Untersuchung Minitabletten ohne Probleme schlucken. Auch in weiteren Studien punkteten die Minitabletten bei Akzeptanz und Compliance: Besonders Säuglinge schluckten sie sogar besser als einen Saft oder Sirup. Die PUMA-Zulassung Melatonin Slenyto® enthält Mikrotabletten mit 1-mg- oder -5-mg-Dosierung und verzögerter Freisetzung. Ein weiteres Beispiel sind Orfiril® long Retard-Minitabletten.
Die 2-mm-Minitabletten erinnern an Globulis. Sie sind so klein, dass sie auch von Säuglingen gut akzeptiert werden. / Foto: Universität Heidelberg/Klingmann
Auch Alkindi®, eine der neueren PUMA-Zulassungen, ist eine orale, sofort freisetzende pädiatrische Formulierung von Hydrocortison-Granulat, die eine altersgerechte Dosierung bei Kindern ermöglicht. Die Hartkapsel, in die das Granulat eingebracht ist, darf nicht geschluckt werden. Durch leichtes Zusammendrücken des Kapselunterteils und Abdrehen des oberen Teils kann die Arzneiform geöffnet werden. Das Granulat geben Eltern dann direkt auf die Zunge oder mit einem Löffel in den Mund. Im Anschluss sollten die kleinen Patienten Wasser, Milch, Muttermilch oder Flaschennahrung trinken. Auch die Einarbeitung in Brei ist möglich. Dass der Gemeinsame Bundesausschuss die kindgerechte Dosierung und die Darreichungsform nicht als Zusatznutzen anerkannt hat, wird nach wie vor kritisch diskutiert.
Bei dem zuletzt zugelassenen PUMA-Arzneimittel ist Vigabatrin (Kigabeq®) in leicht zerfallbare Tabletten eingearbeitet worden, die dann als Lösung entweder oral oder via nasogastraler Sonde appliziert werden. Die Galenik erinnert an das Prinzip der nicht mehr im Handel befindlichen Infectoroxit® Kindertabletten. Dabei hatte man Roxithromycin in geschmacksneutrale Pellets innerhalb einer Tablette verpackt. Die Tablette löste sich mit etwas Wasser auf einem Löffel zu einer Suspension auf. Die kleindimensionierten überzogenen Pellets blieben erhalten und damit der maskierte unangenehme Geschmack des Antibiotikums.
Auch Clarosip® bot 2006 einen raffinierten technologischen Ansatz. In Clarosip® waren mit einem Polymerfilm überzogene, geschmacksneutrale Clarithromycin-Mikropellets in einem Strohhalm-ähnlichen Applikationssystem enthalten. Der Strohhalm konnte in jedes beliebige Kaltgetränk gestellt werden, beim Ansaugen wurden die Pellets dispergiert und in der Regel mit dem ersten Schluck unbemerkt aufgenommen. Der große Nachteil: Die Präparate waren teurer als andere Antibiotika für Kinder, fielen aber trotz ihrer innovativen Galenik unter die Festbetragsregelung. Die Eltern mussten für solche technologisch ausgefeilten Arzneimittel zuzahlen. Die Bereitschaft dazu war gering, beide Präparate verschwanden wieder vom Markt.
Saftflaschen mit Sensoren, die Daten für eine bessere Arzneimittelsicherheit aufzeichnen. / Foto: Kircher
Ein Paradebeispiel für Arzneimittel, die in der Handhabung Schwierigkeiten bereiten, sind Antibiotika-Trockensäfte. Eine exakte Dosierung setzt zum einen die richtige Zubereitung voraus, weshalb der Saft am besten in der Apotheke hergestellt werden sollte. Zum anderen bergen die unterschiedlichen Schaumbildungen und Sedimentationsgeschwindigkeiten der einzelnen Trockensäfte beim Aufschütteln vor der Anwendung zu Hause weitere Fallstricke in Sachen präziser Dosierung. Mit dem Hinweis »Einnahme spätestens drei Minuten nach dem Schütteln« ist die PTA auf der sicheren Seite.
Dr. Wolfgang Kircher will es genauer wissen und versah seine Amoxicillin-Clavulansäure-Trockensäfte in seinem Tüftel-Apothekenlabor mit einem digitalen Modul. Diese besitzen Sensoren, die Daten für Temperatur der Flasche bei Aufbewahrung, im Kühlschrank und Entnahme, Beschleunigung der Flasche durch Umschütteln und Flaschenneigung erstellen. Diese kontinuierlich erhobenen Daten werden dann an den PC in der Apotheke übertragen und geben dem Apotheker Rückmeldung über die korrekte Anwendung. Ein gutes Beispiel dafür, dass digital vernetzte Arzneiformen die Arzneimitteltherapie etwa bei Kindern sicherer machen können.
KIDSafe, ein Forschungsprojekt unter der Leitung der Kinder- und Jugendklinik des Uniklinikums Erlangen, möchte die Risiken des Off-Label-Gebrauchs bei Kindern minimieren. Dafür haben die Wissenschaftler ein digitales Meldesystem für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Medikationsfehler aufgebaut, um mögliche Sicherheitsrisiken systematisch zu erfassen. An das Projekt angeschlossen sind zwölf Kinderkliniken mitsamt den zuweisenden Kinderarztpraxen. Bewährt sich das Informationssystem, könnte es als neue Versorgungsform in ganz Deutschland eingeführt werden.
Für bereits Kinder-zugelassene Arzneimittel gibt es hier Informationen: Die Datenbank www.zak-kinderarzneimittel.de hält genaue Dosierungsangaben und Hilfen für die Auswahl altersgerechter Darreichungsformen für Arzneimittel bereit, die für mindestens eine pädiatrische Altersgruppe vom Neugeborenen bis zum Jugendlichen bereits zugelassen sind. Derzeit sind 1903 Arzneimittel von 37 Unternehmen gelistet. Über eine Suchmaske können Interessierte für die Altersgruppen von 0 bis 16 Jahren alle relevanten Informationen abrufen.