Krankheit mit 1000 Gesichtern |
Der Verlauf einer Multiplen Sklerose unterscheidet sich von Patient zu Patient enorm. In einigen Fällen können Betroffene auf eine Gehhilfe oder einen Rollstuhl angewiesen sein – manchmal auch nur vorübergehend. / © Adobe Stock/AnnaStills
Lina Zeides ist eine gutaussehende junge Frau mit langen roten Haaren, die vor Energie zu sprühen scheint. Dass sie an einer unheilbaren Nervenerkrankung leidet, merkt man ihr – an guten Tagen – nicht an. »Multiple Sklerose bedeutet, in zwei Welten gleichzeitig zu leben«, erklärt die 26-Jährige. »In der einen Welt habe ich keine oder fast keine Einschränkungen und fühle mich topfit – und vor allem gesund. Aber dann gibt es die anderen Tage, an denen ich kaum aus dem Bett komme, unerträgliche Schmerzen habe und mir jeder Schritt unsagbar schwerfällt.«
MS gilt als die Krankheit mit den 1000 Gesichtern. Sie zeigt nicht nur von Patient zu Patient die unterschiedlichsten Symptome, sondern manchmal auch von Tag zu Tag. Lina ist eine von knapp 300.000 Betroffenen in Deutschland. Die chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems zählt zu den häufigsten neurologischen Krankheiten bei jungen Erwachsenen. Meist treten die ersten Symptome im Alter von 20 bis 40 Jahren auf; Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer.
Lina lebt seit fünf Jahren mit der Diagnose MS. Sie erzählt, wie alles begann: »Ich bin eines Morgens aufgewacht und merkte, dass mir fürchterlich schwindlig war und ich verschwommen gesehen habe.« Von Tag zu Tag wurden die Symptome schlimmer. Ein Allgemeinmediziner diagnostizierte eine Angina und schickte sie mit einem pflanzlichen Medikament wieder nach Hause. Statt der erhofften Besserung schränkte sich ihr Sichtfeld immer weiter ein, Gangprobleme kamen hinzu. Eine zweite Ärztin bewies mehr Gespür und ordnete zur Abklärung unter anderem ein MRT (Magnetresonanz-Tomogramm, Kernspinuntersuchung) des Gehirns an. »Zu meinem Glück hat man da schon die typischen Läsionen gesehen. Der Verdacht MS lag deshalb sehr schnell nahe.« Ein paar Tage und einige Untersuchungen später hatte sie Gewissheit.
Obwohl damals eine Welt für sie zusammenbrach, sagt Lina, sei sie froh, dass die MS bei ihr so rasch diagnostiziert wurde. Dadurch bekam sie zeitnah eine zielgerichtete Therapie. Bei anderen Betroffenen dauert es Monate, manchmal sogar Jahre, bis die Diagnose feststeht. Einer der Gründe dafür ist, dass die Symptome besonders zu Beginn der Erkrankung sehr vielgestaltig und wenig spezifisch sind. Selbst für erfahrene Ärzte ist es deshalb manchmal schwierig, sie richtig einzuordnen.
Viele MS-Patienten leiden wie Lina an Sehstörungen, Schwindel und Gangunsicherheiten, manche auch an Sprech- oder Schluckstörungen. Auch Empfindungsstörungen wie Taubheit, Kribbeln oder ein Schwächegefühl an Armen oder Beinen können zu den frühen Krankheitszeichen gehören. Als vergleichsweise typisch gelten Lähmungserscheinungen, ein Steifheitsgefühl oder Muskelkrämpfe (Spastiken) und Schmerzen vor allem in den Beinen. Sie treten aber oft erst im weiteren Krankheitsverlauf auf. 50 bis 80 Prozent der Patienten bekommen Blasenprobleme wie häufigen, kaum kontrollierbaren (imperativen) Harndrang und/oder Inkontinenz. Neben den körperlichen Beschwerden empfinden die Betroffenen kognitive und psychische Beeinträchtigungen als besonders belastend – etwa Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen, Vergesslichkeit, Schlafprobleme und depressive Verstimmungen. Drei von vier Erkrankten leiden unter Fatigue, einem überwältigendem Erschöpfungsgefühl, das die Lebensqualität und die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung stark einschränkt.
Myelinscheiden umgeben die Nervenbahnen und sorgen für eine reibungslose Weiterleitung von Nervenimpulsen. Bei MS-Patienten
zerstören Entzündungsprozesse die Isolierschicht, elektrische Signale werden nur noch eingeschränkt weitergeleitet / © Getty Images/koto_feja