Wie viel Kunststoff verträgt der Mensch? |
Vor etwa einem Jahr sorgten neue Forschungsdaten der Europäischen Umweltagentur bezüglich Bisphenol A für Aufsehen. Danach sind die meisten Europäer dieser hormonaktiven Chemikalie in Mengen ausgesetzt, die gesundheitsschädlich sind, zeigen Analysen Tausender von Urinproben. »Aus endokrinologischer Sicht ist diese hohe Belastung sehr bedenklich«, meint Köhrle.
Vor diesem Hintergrund ist es für ihn unverständlich, dass es erhebliche Kontroversen zwischen verschiedenen Institutionen um tolerierbare tägliche Aufnahmemengen zum Beispiel von Bisphenol A gibt. Zum Hintergrund: Für die Bewertung möglicher Schädigungen durch Nahrungsmittel sind europaweit die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und in Deutschland zusätzlich das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zuständig. Ihre Aufgaben bestehen in der Gefahrenabschätzung und Risikobeschreibung anhand von wissenschaftlichen Daten zur akuten und chronischen Wirkung verschiedenster Substanzen. Dabei ist die tolerierbare tägliche Aufnahmemenge (TDI) von besonderer Relevanz.
Köhrle: »Was Bisphenol A betrifft, unterscheiden sich die neuen noch tolerierbaren Grenzwerte der EFSA und des BfR immerhin um den Faktor 50.000.« Dass das BfR dem neuen, wesentlich niedrigeren tolerablen Grenzwert der EFSA nicht folgt, ist für den Biochemiker nicht nachvollziehbar. »Aus endokrinologischer Sicht müssen die Grenzwerte absolut minimal gezogen sein, vor allem wenn man neuere wissenschaftliche Daten berücksichtigt, dass Bisphenol A nicht nur als endogener Disruptor, sondern auch immunotoxisch wirkt.«
In zurückgestellten Urinproben Hunderter Kita-Kinder und Erwachsener haben Behörden im Frühjahr vermehrt ein Stoffwechselabbauprodukt von Weichmachern namens Mono-n-hexylphthalat (MnHexP) nachgewiesen. Zuerst wurde das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen fündig, dann das Umweltbundesamt bei der vorläufigen Daten-auswertung der Deutschen Umweltstudie.
Das Kritische daran: MnHexP ist ein Metabolit von Di-n-hexylphthalat (DnHexP), ein Weichmacher, der in der EU schon vor Jahren als »besonders besorgniserregend« eingestuft und seit 2019 als Inhaltsstoff in Lebensmittelkontaktmaterialien, Spielzeug und kosmetischen Zubereitungen verboten wurde. Die Suche nach den Ursachen für die erhöhten Werte in den Urinproben läuft, bislang gibt es nur Mutmaßungen. Als eine mögliche Quelle stehen Sonnenschutzmitteln im Visier, auch weil die Urinproben aus den Sommermonaten auffällig erhöht waren.
Für Köhrle erklärt »diese Sonnenschutzmittel-Ursprungs-Hypothese nicht alles. Es muss noch mehr Quellen geben. Ich mag an dieser Stelle etwas provokativ sein, aber die Chemiefirmen, die die Ausgangssubstanzen liefern, haben es über all die Jahrzehnte geschafft, gesundheitsgefährdende Substanzen in der Produktion zu halten, obwohl es gute Daten gibt, dass man auf diese Chemikalien nicht angewiesen ist. Der Lobbydruck der Hersteller auf die regulatorischen Behörden ist da sehr groß. Wir brauchen in der EU eine Chemikalienpolitik, die den vorsorgenden Gesundheitsschutz vor den Profit stellt«.