Zwischen Rauschdroge und Arzneimittel |
Verena Schmidt |
16.02.2024 15:00 Uhr |
Die andere Seite der Medaille ist aber: Bei einigen schwer kranken Patienten kann Cannabis auch äußerst positive Wirkungen haben. In Deutschland wird Cannabis vor allem bei chronischen Schmerzen im Rahmen schwerer Erkrankungen eingesetzt, außerdem bei Muskelkrämpfen bei Multipler Sklerose, Übelkeit und Erbrechen bei einer Chemotherapie sowie bei ungewolltem Gewichtsverlust bei HIV/Aids. »Während für diese zugelassenen Indikationen ein Wirknachweis vorliegt, gibt es bei anderen potenziellen Einsatzbereichen zwar Daten, aber keine Studien, die einen Beweis im wissenschaftlichen Sinne erbringen«, gibt Dr. Theo Dingermann, emeritierter Professor für Pharmazeutische Biologie und Senior Editor der Pharmazeutischen Zeitung, im Gespräch mit PTA-Forum zu Bedenken. »Auf den Punkt gebracht, fehlt es nach wie vor an überzeugender, wissenschaftlicher Evidenz – eigentlich eine Voraussetzung, um eine Substanz in der modernen Medizin einsetzen zu können.«
Neben THC enthält Cannabis als weiteren Hauptwirkstoff Cannabidiol (CBD). Die beiden Cannabinoide binden an Cannabinoid-Rezeptoren in Gehirn und Rückenmark sowie im peripheren Nervensystem und dämpfen so das Schmerzempfinden, steigern den Appetit, lindern Brechreiz und wirken krampflösend. THC wirkt im Gegensatz zu CBD außerdem psychotrop, das heißt, es kann Veränderungen der Psyche und des Bewusstseins auslösen und so Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Wie genau die Wirkung im Zusammenspiel von THC und CBD entsteht und welche weiteren Cannabis-Inhaltsstoffe noch an der Wirkung beteiligt sind, ist unklar. »Ein Problem besteht darin, dass in der Pflanze geschätzt etwa 150 dieser sogenannten Phytocannabinoide enthalten sind. Da ist es prinzipiell schwierig, ein wahrscheinlich vorhandenes pharmakologisches Potenzial optimal zu nutzen«, erklärt Apotheker Dingermann.
Neben den Cannabinoiden sind jüngst weitere Cannabis-Inhaltsstoffe in den Fokus gerückt: die Terpene. Sie gehören zu den sekundären Pflanzenstoffen und sind vor allem für das charakteristische Aroma und den Duft von Pflanzen verantwortlich. Einige Terpene haben selbst pharmakologische Wirkungen, zum Beispiel wirkt Linalool aus dem Lavendel beruhigend. Inwieweit die in Cannabis enthaltenen Terpene (unter anderem Limonen, Myrcen, Pinen und Humulen) selbst bestimmte Wirkungen auslösen, ist nicht erforscht. Es wird jedoch angenommen, dass sie die Wirkung der Cannabinoide verstärken oder verändern können (»Entourage-Effekt«). Verschiedene Eigenschaften oder Wirkungen unterschiedlicher Cannabissorten hängen also wohl auch von den enthaltenen Terpenen ab.
THC und CBD liegen in den Cannabisblüten hauptsächlich in Form ihrer organischen Säuren vor. Für die Wirkung müssen diese decarboxyliert werden, in der Regel erfolgt dies durch Erhitzen. Die Patienten rauchen die Cannabisblüten oder können sie in einem Verdampfer (Vaporisator) erhitzen und dann den Dampf inhalieren. Dingermann: »Von Reproduzierbarkeit hinsichtlich des therapeutischen Ergebnisses kann da kaum gesprochen werden – übrigens auch ein Grund, weshalb es so schwierig ist, gute klinische Studien aufzusetzen. Die bessere Option ist sicherlich der pharmazeutische Extrakt, der viel reproduzierbarer hergestellt werden kann, vor allem dann, wenn dies in einem spezialisierten Unternehmen geschieht. Noch besser wäre der Einsatz von Fertigarzneimitteln, da auch eine gute Formulierung zur Reproduzierbarkeit der therapeutischen Effekte maßgeblich mit beiträgt.«